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 Ein Schiff am Horizont: Felix bei der Lektüre von «Robinson Crusoe»; Weihnachten 1975
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Klassiker
Dreiecksgeschichte
Mein Vater verzog sich ab und zu abends brummelnd aus dem Wohn- und Fernsehzimmer, wenn Mama sich wiedermal einen Film anguckte.
«Problemfilm» nannte er, was er nicht sehen mochte. «Gilles’ Frau», geschrieben 1937 von Madeleine Bourdouxhe, ist von A bis Z ein
«Problembuch» Bourdouxhe, die im literarischen Umkreis von Simone de Beauvoir und Jean Paul Sartre verkehrte, hat mit Elisa eine Frauenfigur
geschaffen, die man nicht so schnell vergisst. Kraft ihrer bedingungslosen Liebe versucht Elisa ihren Mann Gilles, der ein auch für ihn unglückliches
Verhältnis mit ihrer Schwester Victorine eingeht, zurückzugewinnen. Doch die Dreiecksgeschichte nimmt ihren verhängnisvollen Lauf und offenbart,
was Menschen, die sich einst liebten, einander antun können. Ein Buch und eine Autorin, die es (wieder) zu entdecken gilt. Madeleine Bourdouxhe,

Gilles’ Frau. Roman aus dem Französischen von Monika Schlifier, Serie Piper 1998, Fr. 14.90
 

Fiktives Musikportrait
Hendrix der 90er
Tobias O.  Meissner hat zu den jetzt boomenden Endzeitängsten alles gesagt, was es zu sagen gibt: in seinem ebenso famosen, wie kopfverdrehenden Erstling «Starfish Rules» (Jetzt als rororo-Taschenbuch neu aufgelegt). Schon dort spukte Jimi Hendrix’ Geist durch die Zeiten und spielt uns schwindelig. In HalbEngel zügelt der junge Autor seinen sprachlichen Übermut und erzählt fast eine Story von A bis Z. Es ist die fiktive Biographie des Guitaristen Floyd Timmen aus der Atomunfall-Stadt Harrisburg und die Geschichte von Aufstieg und Fall der Band «Mercantile Base Metal Index». Meissner hat – wie auch der Rezensent – ´ne Menge Rockbiographien gelesen. Floyd ist ein Hendrix ohne Drogen, ein keuscher Jim Morrision, ein Kurt Cobain ohne Schrotflinte, und das alles in den späten 90er-Jahren. Meissner kennt seine Einflüsse und spielt mit ihnen. Wir hören die Geschichte zuerst aus dem Munde von Floyds Exfrau, blenden dann zurück ins Studio, wo die Band ihr erstes und einziges Album einspielt, sehen die Band auf dem Höhepunkt des Erfolgs und der Aussicht auf den ganz grossen Profit… Die ausführliche Beschreibung der Musik – samt Plattenkritiken – funktioniert erstaunlich gut und macht Lust, das Ganze wirklich zu hören. Mal sehen, wann «Mercantile Base Metal Index» ihr erstes Konzert geben.

Tobias O.  Meissner, HalbEngel. Roman, Rotbuch-Verlag Hamburg, 248 Seiten, ca. 31.-- sFr.

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Dirty Old Man
**** your job!
1999 ist das Jubiläumsjahr für Hemingway, den alten Macho, und der in aller Munde. Statt also Eulen nach Athen zu tragen, weisen wir lieber auf einen anderen Haudegen hin: Bukowski! Das wunderbare, in luftpostblau und -rot leuchtende Buch «Post Office» fand in mir einen willigen Käufer und Anpreiser. Natürlich ist die schöne Aufmachung reine Ironie: Es sind Berge von «Junk mail», sinnlose Werbesendungen, Müll, die der Pöstler Henry Chinaski sortieren und zu den nörgelnden, ignoranten Kunden bringen muss. Die Arbeit bei der Post ist – vor allem für eine widerspenstige Seele wie Chinaski – die Hölle. Charles Bukowski, der hier aus eigenen Erfahrungen schöpft, zeigt die Hohlheit von hohen ethischen Prinzipien, den Unsinn einer Arbeitsmoral in fremdbestimmten Verhältnissen und die notwendige Dummheit, in der es sich die Leute, sie sich nach oben vorgekämpft haben, bequem machen. Dass privates Glück auf diesem Boden nicht gedeihen kann, ist nur folgerichtig. KritikerInnen machen es sich zu einfach, wenn sie Bukowski Frauenhass vorwerfen und deshalb vom Verzehr seiner Bücher abraten. Wer keine Träne bei der schäbigen Beerdigung von Chinaskis früheren Geliebten Betty vergiesst, der oder die werfe den ersten traurig verwelkten Grabschmuck nach mir! 

Im Original: Charles Bukowski, Post Office, Black Sparrow Press, Santa Rosa, ca. 19.— sFr. Auf deutsch: Der Mann mit der Ledertasche, dtv, München, 10.-- sFr.
 

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Eugen Egner -- Kein Armutszeugnis
Für immer 17
Nicht weniger als fünf Vorreden stellt Eugen Egner seinem Roman «Androiden auf Milchbasis» voran, und schon hier verblüfft er durch eine Überfülle erzählerischen Talents: die Irrfahrt des 20-seitigen Urmanuskripts des Buches bezaubert: Die «Revierkater» stehlen die in von Egner einem Anfall der Depression zerrissenen Aufzeichnungen aus dem Müll. Aber nicht die siegreiche Oberkatze, geschweige denn der schwächliche Kater des Autors, der unterliegt, sondern das Oberkaters Frauchen klebt das Gefledder wieder zusammen, um es aber dann nach dem Lesen ärgerlich wieder aufs Altpapier zu werfen. Egner, der Dichtkunst entsagend und in einem Papier-Recycling Betrieb arbeitend, findet dort sein verstossenes Kind, das sich wundersamer Weise zu einem ganzen Buch auswächst. Ruben Hecht, der Held dieses Buches dagegen kommt nicht voran; er hat sich – in einer unbestimmten Zukunft lebend – an der Elfenbeinküste eine Tropenkrankheit geholt, die ihn sein Leben lang siebzehn Jahre jung erhält. Endlich, nach zwanzig Jahren hat Hecht die Bevormundung der beiden weissbärtigen Eltern satt und reisst aus: willkommener Anlass ist das Konzert der Frauenband «Fleischfressenden Fetischziegen». «Cool!» würde Bart Simpson – der ewige Achtjährige -– dazu sagen. Ich hab nichts beizufügen.

Eugen Egner, Androiden auf Milchbasis, Haffmans Verlag Zürich 1999, 172 Seiten, sFr. 20.--

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Wow, den Houellebecq hab’ ich verdammt früh besprochen!
Ekel vor sich selbst
Die Post des namenlosen Helden in Michel Houellebecqs Erstling beschränkt sich auf Telefonsex-Rechnungen und gelegentliche Werbesendungen. Er lebt ohne Freunde, seit zwei Jahren ohne Geschlechtsverkehr und als erfolgreicher – gelangweilter – Informatiker. Immer mehr wandeln sich Langeweile und Ekel zu Gewalt. Houellebecq protokolliert das ganz nüchtern. Das geht bis zur abstossenden Szene, in der der Held seinem Arbeitskollegen und Versager Tisserand rät, den glücklichen schwarzen Nebenbuhler umzubringen. Keine Empörung des Autors ob diesen Ausfällen von Sexualneid und Rassismus, statt dessen formuliert er kühl seine Theorie vom sexuellen Liberalismus, in dem breite Schichten verarmen und einer kleinen Minderheit alles in den Schoss fällt…
Lange habe ich gezögert, diesen Roman zu besprechen: Da wechseln sich brillante Beschreibungen der leeren Existenz von etablierten Berufsleuten um die dreissig mit frauenfeindlichen Ausfällen und der erst verborgenen, dann offensichtlichen Bereitschaft zu Gewalt. Aber prügeln wir zurecht den Überbringer der schlechten Botschaft? Houellebecq  zeigt den Weg eines Mannes in den Wahnsinn, und nirgends bleibt mehr ein Funken Hoffnung. Ein ekelhaftes, in Frankreich sehr erfolgreiches Buch.

Michel Houellebecq: Ausweitung der Kampfzone. Roman. Aus dem Französischen von Leopold Federmair. Wagenbach, 1999. 
160 Seiten, Fr. 29.50 

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Perec – ein Autor für die einsame Insel
Träume von Räumen
Was Houellebecq nicht kann und nicht will, das vermögen Georges Perecs Bücher: Die Augen öffnen für die stillen Momente, die kleinen Abenteuer auf der Strasse, in der Wohnung, im Bett. Mit Eifer machen wir uns daran, eine Liste aller Orte zu erstellen, an denen wir die Nacht verbracht haben. Mit den Düften, den Gegenstände in den Räumen, den Menschen. Wir beobachten, wie eine Katze noch in den fürchterlichsten Räumen den geeigneten Winkel findet. Perec lebte eine Generation vor Houellebecq und hinterliess trotz seines frühen Todes 1982 im Alter von 46 Jahren Meisterwerke des avantgardistischen Erzählens. Mit «Anton Voyls Fortgang» schuf er einen Roman ohne den Buchstaben «e» und in «Das Leben. Gebrauchsanweisung» entwickelt er in hunderten von Geschichten der Bewohner eines Mietshauses in Paris einen Mikrokosmos des Lebens. Damit wir uns nicht falsch verstehen. Perec liefert keine Idyllen, aber noch in den traurigsten Momenten im Leben der Menschen, die allesamt Exzentriker sind, schimmert die Poesie. Als Einstiegsdroge in Perecs Welt eignet sich «Träume von Räumen», ein schmales, schönes Fischer-Taschenbuch, vortrefflich. 

Georges Perec. Träume von Räumen. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé, Fischer Taschenbuch Verlag, 120 Seiten, Fr. 12.90 Helge Scheider haut in die Eier
Eiersalat, meine Herren
Schluss mit der Aufsplitterung der Frauenszene und der Qual der Lektürewahl! Nach «Dumm und dick», dem S.C.U.M.-Manifesto der Gesellschaft zur Vernichtung aller Männer und dem neuesten Buch der Esoteriktante Luisa Francia über  Bergsteigerinnen – auch Frauen bringen’s in eisige Höhen! – können sich endlich wieder alle Schwestern hinter eine Frau scharen: Helga Maria Schneider. Intensiv und rudimentär in der Sprache, aber immer hart. Sie bringt die Schicksalsmelodie Burris und die Radikalität von Salinas S.C.U.M zusammen und … nein, esoterisch ist sie nicht, sondern prall im Leben drin. Auch wenn die Männer das Gipfelstürmen nicht lohnen, einen gezielten Tritt sind sie immer wert.
«Mein Sekt kam und kam nicht. Ich wurde langsam sauer. Als er dann endlich doch kam und mit ihm der Steward, legte ich wie aus Versehen das eine Bein so ungeschickt über das andere, dass meine schweren Wanderschuhe ihn unwiederbringlich verheerend im Schritt erwischten. Eiersalat auf jeder Ebene meine Damen! Erstmals seit langem konnte ich wieder lachen…»
Erst wenn Mauro Tuena die Ablehnung des nächsten Kredits ans Frauenzentrum drohend mit Schneiders Buch in der Hand begründet, werde ich von meinem uneingeschränkten Lob ablassen. Bis dahin – und dann erst recht! – aber gilt: Eiersalat auf jeder Ebene, meine Damen.

Helga Maria Schneider, Eiersalat. Eine Frau geht seinen Weg, Kiepenheuer & Witsch 1999, sFr, 14.90

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Underground-Zeitschrift
Junge Literatur
«Das Heft das seinen langen Namen ändern wollte» hat nun bereits in der zweiten Ausgabe den Namen geändert. (Wenn auch nur geringfügig). Immer noch dabei ist Monika Burri, die mit neuen Impressionen aus dem gehasstliebten Zürich aufwartet. Sie beschwört eine Stadt aus früheren besseren Jahren, als man sich noch fünf-Grusswort-Karten schrieb. Langsam verblasst sie, weil alles in den E-Mail-Bomben mit ihren Anspielungswogen und Fortsetzungsromanen untergeht. Wenn das Schreiben von Postkarten schon zu einem Akt der Auflehnung wird, welch Heldentat ist da erst die Herausgabe eines Heftes auf gutem alten Papier für eine zweistellige Anzahl AbonnentInnen? Damit es mehr werden, die den strapazierfähigen neuen Umschlag in Händen halten und die neuen Texte der jungen Schreibenden lesen können, muss man nur eine Postkarte an die richtige Adresse schicken. Neue Texte seien ebenfalls immer willkommen, teilten uns die Herausgeber mit. 

«Das Heft, das seinen Namen ändern wollte», Nummer 2 für 4.-- Franken; Abo für drei Nummern 14.-- sFr. inkl. Porto. VgM, Verlag der gesunde Menschenversand, Postfach 896, 3000 Bern 9
 

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Früher Ruhm -- tragischer Tod
Zwischenwelten
Der staatliche Literaturpreis des Kantons Freiburg für das Buchprojekt «Zwischenwelten» kam zehn Tage zu spät für die 17jährige Judith Sarah Fricke. Sie hatte sich das Leben genommen, folgte ihrem Geliebten in den Tod. Wer das nun vorliegende erste – und einzige – Buch der Autorin in die Hand nimmt und darin liest, begibt sich wahrhaftig in «Zwischenwelten». Was einem selbst in den Jahren der Kindheit und frühen bis späten Jugend fasziniert, geängstigt und entweder sprachlos gemacht oder in erste misslungene Schreibversuche getrieben hat, ist hier Literatur geworden. Dunkle Gedichte, Kurzgeschichten mit geisterhaften Menschen auf der Schwelle zwischen Leben und Tod, kleine absurd-witzig-traurige Theaterstücke und Szenen zeugen von der grossartigen Sprachkraft Frickes. Neben den prämierten «Zwischenwelten» sind viele nachgelassene Texte in den Band aufgenommen worden, u.a. ein Märchen, geschrieben mit acht Jahren und eine Reihe von science fiction-Texten. Ein einzigartiges Dokument eines kurzen Lebens. 
Judith Sarah Fricke, Zwischenwelten, 208 Seiten, broschiert, zwei Fotos, Verlag Ricco Bilger Zürich 1998, sFr. 38.--
 
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Ruth Schweikerts Zweitling
Augen zu
Wie das «k» in Aleks Martin Schwarz’ Namen gekommen ist, wird nicht so schnell verraten. (Und auch der Rezensent plaudert nicht aus.) Die schauerliche Namensfindung ist nur eine der zahllosen kleinen Geschichten in Ruth Schweikerts Roman «Augen zu». Erzählt wird ein Tag im Leben der Künstlerin Aleks – genauer, der 16. Juni 1995, ihr dreissigster Geburtstag – und der Menschen, deren Schicksal sie wie ein Reigen umgibt. Mosaikstein um Mosaikstein setzt sich die LeserIn ihr Bild zusammen, fasziniert von Schweikerts oft schwindelerregend langen Sätzen und den haarsträubenden Details. Zum Beispiel Aleks’ Jobs: der sogenannte Pharmastrich oder die Arbeit als Sex-Telefonistin, bei der sie sich in sexuelle Erregung versetzt fühlt, für die sie sich verabscheut. Dies sind grelle Farbgebungen, Schweikert war schon in ihrem vielgelobten Erstling «Erdnüsse. Totschlagen» sehr direkt in ihren Schilderungen, aber auch dort gab es feinere Nuancen, zärtliche Details, die in «Augen zu» noch besser zur Geltung kommen und in einem fast versöhnlichen Ende münden. Ein Ende, das eigentlich mit dem Anfang des Buches zusammenfällt und damit Lust auf eine erneute Lektüre macht. Auch die lohnt sich.

Ruth Schweikert, Augen zu. Roman, gebunden, 160 Seiten, Ammann Verlag Zürich, 1998, sFr. 34.--

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About a Boy
Im Hornby-Fieber
Mit «About a Boy» legt der Brite Nick Hornby nun nach «High Fidelity» und der Fussballhymne «Fever Pitch» seinen dritten Roman vor. Marcus, in der Schule als Aussenseiter geplagter Sohn einer in alten Hippiezeiten stehengebliebenen und selbstmordgefährdeten Mutter trifft auf den 36jährigen Tagedieb Will. Der lebt von den Einnahmen eines Weihnachtsliedes, das sein Vater vor langer Zeit komponiert hat. Die Zeit vertreibt er sich auf Treffen alleinerziehender Eltern, wo er neue Liebschaften anbahnen will. Ohne Kind kann das aber nicht gutgehen, da kommt ihm Marcus, der ihm in seiner Naivität anfangs mächtig auf den Keks geht, auf einmal sehr gelegen. Doch schon vollzieht die Story die nächste tollkühne Wendung… Hornby schafft es dabei, von der ersten bis zur letzten Seite köstlich zu unterhalten und erzählt uns ohne billige Sentimentalitäten eine genaue Sozialstudie der späten Jahre des Grunge. Nirvana und der Rest des Soundtracks stehen sicher bereits in eurem Plattenregal. Fehlt nur noch «About a Boy» als Tüpfelchen auf dem i für jede gute Sammlung! 

Nick Hornby, About a Boy. Roman, 310 Seiten gebunden, Verlag Kiepenheuer & Witsch, 1998, ca. sFr. 36.--

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Das Metzgereigeschäft
Fleisch!
Versucht doch mal dieses Rezept: 2 kg Rind, 1 Dose Champignonsuppe, 1 Beutel Zwiebelsuppe und 1.5 l Coke für drei Stunden in den Ofen. Eklig? Eklig wie viele Passagen in Ruth L. Ozekis Buch «Beef». Die Filmerin Jane Takagi-Little erhält die Chance ihres Lebens. Sie soll für den amerikanischen Fleischkonzern Beef-Ex «Dokumentarfilme» drehen, um in Japan den Absatz von Rindfleisch anzukurbeln. In der Serie «My American Wife» steht immer eine Familie mit ihrem Lieblingsrezept im Mittelpunkt. Gefragt sind weisse Musterfamilien, doch angetrieben vom Erfolg ihrer Sendung und den Einblicken in die Machenschaften der Industrie geht Takagi bald einmal eigene Weg. Als sie ein lesbisches Paar porträtiert, das zudem vegetarisch lebt, kommt sie in ernsthafte Schwierigkeiten... und die Japanerin Akkiko Ueno, die für ihren gewalttätigen Mann alle Rezepte nachkochen muss, «damit sie endlich wieder ihre Periode bekommt, denn Fleisch macht fruchtbar!», beginnt sich aus den Zwängen der Ehe zu befreien. «Beef» schöpft die satirischen Möglichkeiten – nicht zuletzt im Spiel mit nationalistischen Klischees – voll aus. Und die flammende Anklage an die Fleischindustrie wird bei der einen oder anderen LeserIn wohl auch Wirkung im Essverhalten zeigen. Recht so. 

Ruth L. Ozeki, Beef. Roman aus dem Amerikanischen von Ursula Wulfekamp, 380 Seiten, Fretz & Wasmuth 1998, ca. sFr. 36.--

Himes schlägt sie alle
Lauf Mann, lauf!
Wer kennt bei uns schon Chester Himes? In den USA wird Himes, 1909-84, in einem Atemzug mit Chandler genannt. Nach zwei Jahren Gefängnis wegen bewaffnetem Überfall, kurzen Jornalistenjobs und Arbeit in Schiffswerften, schreibt er im Alter von fünfzig Jahren seinen ersten Krimi. Angewidert vom rassistischen Amerika geht er 1953 nach Paris, wo er u.a. den Grand Prix de Littérature Policière für sein umfangreiches Schaffen erhält. Nach lausigen, verstümmelten Übersetzungen ins Deutsche, die zudem schon lange vergriffen sind, bringt nun endlich der Unionsverlag Himes Werke in der Form heraus, die ihnen gebührt. «Lauf Mann, lauf!» etwa ist der Alptraum des weissen, rassistischen Amerikkka. Ein Polizist läuft Amok, tötet zwei Schwarze und will nun auch den letzten Zeugen umbringen. Dieser läuft um sein Leben – und niemand glaubt ihm. Die Story ist atemberaubend, das Buch eines der grossen Leseerlebnisse dieses Jahres. 

Chester Himes. Lauf Mann, lauf! Deutsch von Manfred Görgens, Unionsverlag Zürich 1998, 250 Seiten, sFr. 14.90
 

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Short Stories von David Sedaris
Deutsch von Harry Rowohlt
Die Qual der Wahl: wer nicht immer nur Bücher seiner LieblingsautorInnen lesen will, findet sich jeden Frühling und Herbst vor meterhohen Stapeln von Neuerscheinungen. Soll ich mir die Bücher nach Verlagen aussuchen, den Klappentexten, die mir immer öfter ein «Jahrhundertwerk» versprechen, glauben oder gar nach Umschlag oder Farbe (Rot! Grün!) entscheiden? Wenn mir gar nichts mehr einfällt nehme ich einfach ein Buch meines Lieblingsbarträgers, -trinkers und Flann O’Brian-Übersetzers. Wo «Deutsch von Harry Rowohlt» draufsteht ist immer Qualität drin. So dass man unbesehen  David Sedaris Short-Stories-Sammlung «Nackt» zur Hand nehmen kann. Der Lesegenuss lässt nicht auf sich warten. In der Titelgeschichte erfahren wir alles über die Mühen mit dem Körper im Nudistencamp, – wohin mit der Brieftasche? – und die Wichtigkeit von Handtüchern. Alles ist wahr, versichert der New Yorker Autor und erzählt in «Ich mag Jungs» die Geschichte des verknorksten Coming-out  eines Teenagers – dreissig Tage Verstopfung im Ferienlager, oh weh! Und «Familienbande», ist das haarsträubendste, das ich je über Sex in der Familie gelesen habe. (Felix Saltens «Mutzenbacher» ist ein Witz dagegen.) Alles in allem genau das abgefahrene Buch mit 17 Stories für die abgefahrenen Toaster-LeserInnen, die ich beim Schreiben immer vor Augen habe.

David Sedaris, Nackt, aus dem Amerikanischen von Harry Rowohlt, Haffmans Verlag Zürich 1999, 350 Seiten, sFr. 39.--

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Italien nach dem Krieg
Schatten der Vergangenheit
Was machen italienische Autonome, die in die Jahre kommen? Sie entdecken die AC-Milan-Fans als neues revolutionäres Subjekt wie Nanni Balestrini vor einigen Jahren in «I furiosi». Oder... Oder sie schreiben sehnsüchtige Romane über die Insel Ischia, dem Meere trotzende Fischer (der alte Mann und das Meer von Hemingway lässt grüssen!) und erinnern an die einfachen Leute auf dem Land, die es in den frühen 50ern noch gegeben hat... Doch halt: Erri De Lucas Buch, das ich mit leisen bis halblautem Spott zu lesen begonnen hatte, ist kein nostalgischer Trip, auch wenn die traumumwundene Atmosphäre bis zum Schluss aufrecht erhalten bleibt. Immer tiefer dringt der junge Ich-Erzähler in die Vergangenheit, die seine Eltern und deren Generation nur noch vergessen wollen, ein. Was war im Krieg? Der Fischer Nicola erzählt stockend von den Verbrechen in Jugoslawien. Und als das geheimnisvolle Mädchen Caio auf der Insel auftaucht, wird dem Jungen klar, dass sie etwas mit den Geschichten Nicolas und seinem Wunsch die Vergangenheit zu verstehen, zu tun hat. Ein seltsam berührendes, beunruhigendes Buch.

Erri De Luca, Das Meer der Erinnerung, Roman, Deutsch von Tobias Eisermann, Rowohlt Verlag Reinbek b. Hamburg 1999, 125 Seiten, sFr. 32.--

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