Klassiker
Dreiecksgeschichte
Mein Vater verzog sich ab und zu abends brummelnd aus dem Wohn- und
Fernsehzimmer, wenn Mama sich wiedermal einen Film anguckte.
«Problemfilm» nannte er, was er nicht sehen mochte. «Gilles’
Frau», geschrieben 1937 von Madeleine Bourdouxhe, ist von A bis Z
ein
«Problembuch» Bourdouxhe, die im literarischen Umkreis
von Simone de Beauvoir und Jean Paul Sartre verkehrte, hat mit Elisa eine
Frauenfigur
geschaffen, die man nicht so schnell vergisst. Kraft ihrer bedingungslosen
Liebe versucht Elisa ihren Mann Gilles, der ein auch für ihn unglückliches
Verhältnis mit ihrer Schwester Victorine eingeht, zurückzugewinnen.
Doch die Dreiecksgeschichte nimmt ihren verhängnisvollen Lauf und
offenbart,
was Menschen, die sich einst liebten, einander antun können. Ein
Buch und eine Autorin, die es (wieder) zu entdecken gilt. Madeleine Bourdouxhe,
Gilles’ Frau. Roman aus dem Französischen von Monika
Schlifier, Serie Piper 1998, Fr. 14.90
Fiktives Musikportrait
Hendrix
der 90er
Tobias O. Meissner hat zu den jetzt boomenden Endzeitängsten
alles gesagt, was es zu sagen gibt: in seinem ebenso famosen, wie kopfverdrehenden
Erstling «Starfish Rules» (Jetzt als rororo-Taschenbuch neu
aufgelegt). Schon dort spukte Jimi Hendrix’ Geist durch die Zeiten und
spielt uns schwindelig. In HalbEngel zügelt der junge Autor seinen
sprachlichen Übermut und erzählt fast eine Story von A bis Z.
Es ist die fiktive Biographie des Guitaristen Floyd Timmen aus der Atomunfall-Stadt
Harrisburg und die Geschichte von Aufstieg und Fall der Band «Mercantile
Base Metal Index». Meissner hat – wie auch der Rezensent – ´ne
Menge Rockbiographien gelesen. Floyd ist ein Hendrix ohne Drogen, ein keuscher
Jim Morrision, ein Kurt Cobain ohne Schrotflinte, und das alles in den
späten 90er-Jahren. Meissner kennt seine Einflüsse und spielt
mit ihnen. Wir hören die Geschichte zuerst aus dem Munde von Floyds
Exfrau, blenden dann zurück ins Studio, wo die Band ihr erstes und
einziges Album einspielt, sehen die Band auf dem Höhepunkt des Erfolgs
und der Aussicht auf den ganz grossen Profit… Die ausführliche Beschreibung
der Musik – samt Plattenkritiken – funktioniert erstaunlich gut und macht
Lust, das Ganze wirklich zu hören. Mal sehen, wann «Mercantile
Base Metal Index» ihr erstes Konzert geben.
Tobias O. Meissner, HalbEngel. Roman, Rotbuch-Verlag
Hamburg, 248 Seiten, ca. 31.-- sFr.
Dirty
Old Man
**** your
job!
1999 ist das Jubiläumsjahr für Hemingway, den alten Macho,
und der in aller Munde. Statt also Eulen nach Athen zu tragen, weisen wir
lieber auf einen anderen Haudegen hin: Bukowski! Das wunderbare, in luftpostblau
und -rot leuchtende Buch «Post Office» fand in mir einen willigen
Käufer und Anpreiser. Natürlich ist die schöne Aufmachung
reine Ironie: Es sind Berge von «Junk mail», sinnlose Werbesendungen,
Müll, die der Pöstler Henry Chinaski sortieren und zu den nörgelnden,
ignoranten Kunden bringen muss. Die Arbeit bei der Post ist – vor allem
für eine widerspenstige Seele wie Chinaski – die Hölle. Charles
Bukowski, der hier aus eigenen Erfahrungen schöpft, zeigt die Hohlheit
von hohen ethischen Prinzipien, den Unsinn einer Arbeitsmoral in fremdbestimmten
Verhältnissen und die notwendige Dummheit, in der es sich die Leute,
sie sich nach oben vorgekämpft haben, bequem machen. Dass privates
Glück auf diesem Boden nicht gedeihen kann, ist nur folgerichtig.
KritikerInnen machen es sich zu einfach, wenn sie Bukowski Frauenhass vorwerfen
und deshalb vom Verzehr seiner Bücher abraten. Wer keine Träne
bei der schäbigen Beerdigung von Chinaskis früheren Geliebten
Betty vergiesst, der oder die werfe den ersten traurig verwelkten Grabschmuck
nach mir!
Im Original: Charles Bukowski, Post Office, Black Sparrow
Press, Santa Rosa, ca. 19.— sFr. Auf deutsch: Der Mann mit der Ledertasche,
dtv, München, 10.-- sFr.
Eugen Egner -- Kein Armutszeugnis
Für immer 17
Nicht weniger als fünf Vorreden stellt Eugen Egner seinem Roman
«Androiden auf Milchbasis» voran, und schon hier verblüfft
er durch eine Überfülle erzählerischen Talents: die Irrfahrt
des 20-seitigen Urmanuskripts des Buches bezaubert: Die «Revierkater»
stehlen die in von Egner einem Anfall der Depression zerrissenen Aufzeichnungen
aus dem Müll. Aber nicht die siegreiche Oberkatze, geschweige denn
der schwächliche Kater des Autors, der unterliegt, sondern das Oberkaters
Frauchen klebt das Gefledder wieder zusammen, um es aber dann nach dem
Lesen ärgerlich wieder aufs Altpapier zu werfen. Egner, der Dichtkunst
entsagend und in einem Papier-Recycling Betrieb arbeitend, findet dort
sein verstossenes Kind, das sich wundersamer Weise zu einem ganzen Buch
auswächst. Ruben Hecht, der Held dieses Buches dagegen kommt nicht
voran; er hat sich – in einer unbestimmten Zukunft lebend – an der Elfenbeinküste
eine Tropenkrankheit geholt, die ihn sein Leben lang siebzehn Jahre jung
erhält. Endlich, nach zwanzig Jahren hat Hecht die Bevormundung der
beiden weissbärtigen Eltern satt und reisst aus: willkommener Anlass
ist das Konzert der Frauenband «Fleischfressenden Fetischziegen».
«Cool!» würde Bart Simpson – der ewige Achtjährige
-– dazu sagen. Ich hab nichts beizufügen.
Eugen Egner, Androiden auf Milchbasis, Haffmans Verlag
Zürich 1999, 172 Seiten, sFr. 20.--
Wow, den Houellebecq hab’ ich verdammt früh
besprochen!
Ekel vor sich selbst
Die Post des namenlosen Helden in Michel Houellebecqs Erstling beschränkt
sich auf Telefonsex-Rechnungen und gelegentliche Werbesendungen. Er lebt
ohne Freunde, seit zwei Jahren ohne Geschlechtsverkehr und als erfolgreicher
– gelangweilter – Informatiker. Immer mehr wandeln sich Langeweile und
Ekel zu Gewalt. Houellebecq protokolliert das ganz nüchtern. Das geht
bis zur abstossenden Szene, in der der Held seinem Arbeitskollegen und
Versager Tisserand rät, den glücklichen schwarzen Nebenbuhler
umzubringen. Keine Empörung des Autors ob diesen Ausfällen von
Sexualneid und Rassismus, statt dessen formuliert er kühl seine Theorie
vom sexuellen Liberalismus, in dem breite Schichten verarmen und einer
kleinen Minderheit alles in den Schoss fällt…
Lange habe ich gezögert, diesen Roman zu besprechen: Da wechseln
sich brillante Beschreibungen der leeren Existenz von etablierten Berufsleuten
um die dreissig mit frauenfeindlichen Ausfällen und der erst verborgenen,
dann offensichtlichen Bereitschaft zu Gewalt. Aber prügeln wir zurecht
den Überbringer der schlechten Botschaft? Houellebecq zeigt
den Weg eines Mannes in den Wahnsinn, und nirgends bleibt mehr ein Funken
Hoffnung. Ein ekelhaftes, in Frankreich sehr erfolgreiches Buch.
Michel Houellebecq: Ausweitung der Kampfzone. Roman. Aus
dem Französischen von Leopold Federmair. Wagenbach, 1999.
160 Seiten, Fr. 29.50
Perec – ein Autor für die einsame Insel
Träume
von Räumen
Was Houellebecq nicht kann und nicht will, das vermögen Georges
Perecs Bücher: Die Augen öffnen für die stillen Momente,
die kleinen Abenteuer auf der Strasse, in der Wohnung, im Bett. Mit Eifer
machen wir uns daran, eine Liste aller Orte zu erstellen, an denen wir
die Nacht verbracht haben. Mit den Düften, den Gegenstände in
den Räumen, den Menschen. Wir beobachten, wie eine Katze noch in den
fürchterlichsten Räumen den geeigneten Winkel findet. Perec lebte
eine Generation vor Houellebecq und hinterliess trotz seines frühen
Todes 1982 im Alter von 46 Jahren Meisterwerke des avantgardistischen Erzählens.
Mit «Anton Voyls Fortgang» schuf er einen Roman ohne den Buchstaben
«e» und in «Das Leben. Gebrauchsanweisung» entwickelt
er in hunderten von Geschichten der Bewohner eines Mietshauses in Paris
einen Mikrokosmos des Lebens. Damit wir uns nicht falsch verstehen. Perec
liefert keine Idyllen, aber noch in den traurigsten Momenten im Leben der
Menschen, die allesamt Exzentriker sind, schimmert die Poesie. Als Einstiegsdroge
in Perecs Welt eignet sich «Träume von Räumen», ein
schmales, schönes Fischer-Taschenbuch, vortrefflich.
Georges Perec. Träume von Räumen. Aus dem Französischen
von Eugen Helmlé, Fischer Taschenbuch Verlag, 120 Seiten, Fr. 12.90
Helge Scheider haut in die Eier
Eiersalat,
meine Herren
Schluss mit der Aufsplitterung der Frauenszene und der Qual der Lektürewahl!
Nach «Dumm und dick», dem S.C.U.M.-Manifesto der Gesellschaft
zur Vernichtung aller Männer und dem neuesten Buch der Esoteriktante
Luisa Francia über Bergsteigerinnen – auch Frauen bringen’s
in eisige Höhen! – können sich endlich wieder alle Schwestern
hinter eine Frau scharen: Helga Maria Schneider. Intensiv und rudimentär
in der Sprache, aber immer hart. Sie bringt die Schicksalsmelodie Burris
und die Radikalität von Salinas S.C.U.M zusammen und … nein, esoterisch
ist sie nicht, sondern prall im Leben drin. Auch wenn die Männer das
Gipfelstürmen nicht lohnen, einen gezielten Tritt sind sie immer wert.
«Mein Sekt kam und kam nicht. Ich wurde langsam sauer. Als er
dann endlich doch kam und mit ihm der Steward, legte ich wie aus Versehen
das eine Bein so ungeschickt über das andere, dass meine schweren
Wanderschuhe ihn unwiederbringlich verheerend im Schritt erwischten. Eiersalat
auf jeder Ebene meine Damen! Erstmals seit langem konnte ich wieder lachen…»
Erst wenn Mauro Tuena die Ablehnung des nächsten Kredits ans Frauenzentrum
drohend mit Schneiders Buch in der Hand begründet, werde ich von meinem
uneingeschränkten Lob ablassen. Bis dahin – und dann erst recht! –
aber gilt: Eiersalat auf jeder Ebene, meine Damen.
Helga Maria Schneider, Eiersalat. Eine Frau geht seinen
Weg, Kiepenheuer & Witsch 1999, sFr, 14.90
Underground-Zeitschrift
Junge Literatur
«Das Heft das seinen langen Namen ändern wollte» hat
nun bereits in der zweiten Ausgabe den Namen geändert. (Wenn auch
nur geringfügig). Immer noch dabei ist Monika Burri, die mit neuen
Impressionen aus dem gehasstliebten Zürich aufwartet. Sie beschwört
eine Stadt aus früheren besseren Jahren, als man sich noch fünf-Grusswort-Karten
schrieb. Langsam verblasst sie, weil alles in den E-Mail-Bomben mit ihren
Anspielungswogen und Fortsetzungsromanen untergeht. Wenn das Schreiben
von Postkarten schon zu einem Akt der Auflehnung wird, welch Heldentat
ist da erst die Herausgabe eines Heftes auf gutem alten Papier für
eine zweistellige Anzahl AbonnentInnen? Damit es mehr werden, die den strapazierfähigen
neuen Umschlag in Händen halten und die neuen Texte der jungen Schreibenden
lesen können, muss man nur eine Postkarte an die richtige Adresse
schicken. Neue Texte seien ebenfalls immer willkommen, teilten uns die
Herausgeber mit.
«Das Heft, das seinen Namen ändern wollte»,
Nummer 2 für 4.-- Franken; Abo für drei Nummern 14.-- sFr. inkl.
Porto. VgM, Verlag der gesunde Menschenversand, Postfach 896, 3000 Bern
9
Früher Ruhm -- tragischer Tod
Zwischenwelten
Der staatliche Literaturpreis des Kantons Freiburg für das Buchprojekt
«Zwischenwelten» kam zehn Tage zu spät für die 17jährige
Judith Sarah Fricke. Sie hatte sich das Leben genommen, folgte ihrem Geliebten
in den Tod. Wer das nun vorliegende erste – und einzige – Buch der Autorin
in die Hand nimmt und darin liest, begibt sich wahrhaftig in «Zwischenwelten».
Was einem selbst in den Jahren der Kindheit und frühen bis späten
Jugend fasziniert, geängstigt und entweder sprachlos gemacht oder
in erste misslungene Schreibversuche getrieben hat, ist hier Literatur
geworden. Dunkle Gedichte, Kurzgeschichten mit geisterhaften Menschen auf
der Schwelle zwischen Leben und Tod, kleine absurd-witzig-traurige Theaterstücke
und Szenen zeugen von der grossartigen Sprachkraft Frickes. Neben den prämierten
«Zwischenwelten» sind viele nachgelassene Texte in den Band
aufgenommen worden, u.a. ein Märchen, geschrieben mit acht Jahren
und eine Reihe von science fiction-Texten. Ein einzigartiges Dokument eines
kurzen Lebens.
Judith Sarah Fricke, Zwischenwelten,
208 Seiten, broschiert, zwei Fotos, Verlag Ricco Bilger Zürich 1998,
sFr. 38.--
Ruth Schweikerts Zweitling
Augen zu
Wie das «k» in Aleks Martin Schwarz’ Namen gekommen ist,
wird nicht so schnell verraten. (Und auch der Rezensent plaudert nicht
aus.) Die schauerliche Namensfindung ist nur eine der zahllosen kleinen
Geschichten in Ruth Schweikerts Roman «Augen zu». Erzählt
wird ein Tag im Leben der Künstlerin Aleks – genauer, der 16. Juni
1995, ihr dreissigster Geburtstag – und der Menschen, deren Schicksal sie
wie ein Reigen umgibt. Mosaikstein um Mosaikstein setzt sich die LeserIn
ihr Bild zusammen, fasziniert von Schweikerts oft schwindelerregend langen
Sätzen und den haarsträubenden Details. Zum Beispiel Aleks’ Jobs:
der sogenannte Pharmastrich oder die Arbeit als Sex-Telefonistin, bei der
sie sich in sexuelle Erregung versetzt fühlt, für die sie sich
verabscheut. Dies sind grelle Farbgebungen, Schweikert war schon in ihrem
vielgelobten Erstling «Erdnüsse. Totschlagen» sehr direkt
in ihren Schilderungen, aber auch dort gab es feinere Nuancen, zärtliche
Details, die in «Augen zu» noch besser zur Geltung kommen und
in einem fast versöhnlichen Ende münden. Ein Ende, das eigentlich
mit dem Anfang des Buches zusammenfällt und damit Lust auf eine erneute
Lektüre macht. Auch die lohnt sich.
Ruth Schweikert, Augen zu. Roman,
gebunden, 160 Seiten, Ammann Verlag Zürich, 1998, sFr. 34.--
About a Boy
Im Hornby-Fieber
Mit «About a Boy» legt der Brite Nick Hornby nun nach «High
Fidelity» und der Fussballhymne «Fever Pitch» seinen
dritten Roman vor. Marcus, in der Schule als Aussenseiter geplagter Sohn
einer in alten Hippiezeiten stehengebliebenen und selbstmordgefährdeten
Mutter trifft auf den 36jährigen Tagedieb Will. Der lebt von den Einnahmen
eines Weihnachtsliedes, das sein Vater vor langer Zeit komponiert hat.
Die Zeit vertreibt er sich auf Treffen alleinerziehender Eltern, wo er
neue Liebschaften anbahnen will. Ohne Kind kann das aber nicht gutgehen,
da kommt ihm Marcus, der ihm in seiner Naivität anfangs mächtig
auf den Keks geht, auf einmal sehr gelegen. Doch schon vollzieht die Story
die nächste tollkühne Wendung… Hornby schafft es dabei, von der
ersten bis zur letzten Seite köstlich zu unterhalten und erzählt
uns ohne billige Sentimentalitäten eine genaue Sozialstudie der späten
Jahre des Grunge. Nirvana und der Rest des Soundtracks stehen sicher bereits
in eurem Plattenregal. Fehlt nur noch «About a Boy» als Tüpfelchen
auf dem i für jede gute Sammlung!
Nick Hornby, About a Boy. Roman,
310 Seiten gebunden, Verlag Kiepenheuer & Witsch, 1998, ca. sFr. 36.--
Das Metzgereigeschäft
Fleisch!
Versucht doch mal dieses Rezept: 2 kg Rind, 1 Dose Champignonsuppe,
1 Beutel Zwiebelsuppe und 1.5 l Coke für drei Stunden in den Ofen.
Eklig? Eklig wie viele Passagen in Ruth L. Ozekis Buch «Beef».
Die Filmerin Jane Takagi-Little erhält die Chance ihres Lebens. Sie
soll für den amerikanischen Fleischkonzern Beef-Ex «Dokumentarfilme»
drehen, um in Japan den Absatz von Rindfleisch anzukurbeln. In der Serie
«My American Wife» steht immer eine Familie mit ihrem Lieblingsrezept
im Mittelpunkt. Gefragt sind weisse Musterfamilien, doch angetrieben vom
Erfolg ihrer Sendung und den Einblicken in die Machenschaften der Industrie
geht Takagi bald einmal eigene Weg. Als sie ein lesbisches Paar porträtiert,
das zudem vegetarisch lebt, kommt sie in ernsthafte Schwierigkeiten...
und die Japanerin Akkiko Ueno, die für ihren gewalttätigen Mann
alle Rezepte nachkochen muss, «damit sie endlich wieder ihre Periode
bekommt, denn Fleisch macht fruchtbar!», beginnt sich aus den Zwängen
der Ehe zu befreien. «Beef» schöpft die satirischen Möglichkeiten
– nicht zuletzt im Spiel mit nationalistischen Klischees – voll aus. Und
die flammende Anklage an die Fleischindustrie wird bei der einen oder anderen
LeserIn wohl auch Wirkung im Essverhalten zeigen. Recht so.
Ruth L. Ozeki, Beef. Roman aus dem
Amerikanischen von Ursula Wulfekamp, 380 Seiten, Fretz & Wasmuth 1998,
ca. sFr. 36.--
Himes schlägt sie alle
Lauf Mann, lauf!
Wer kennt bei uns schon Chester Himes? In den USA wird Himes, 1909-84,
in einem Atemzug mit Chandler genannt. Nach zwei Jahren Gefängnis
wegen bewaffnetem Überfall, kurzen Jornalistenjobs und Arbeit in Schiffswerften,
schreibt er im Alter von fünfzig Jahren seinen ersten Krimi. Angewidert
vom rassistischen Amerika geht er 1953 nach Paris, wo er u.a. den Grand
Prix de Littérature Policière für sein umfangreiches
Schaffen erhält. Nach lausigen, verstümmelten Übersetzungen
ins Deutsche, die zudem schon lange vergriffen sind, bringt nun endlich
der Unionsverlag Himes Werke in der Form heraus, die ihnen gebührt.
«Lauf Mann, lauf!» etwa ist der Alptraum des weissen, rassistischen
Amerikkka. Ein Polizist läuft Amok, tötet zwei Schwarze und will
nun auch den letzten Zeugen umbringen. Dieser läuft um sein Leben
– und niemand glaubt ihm. Die Story ist atemberaubend, das Buch eines der
grossen Leseerlebnisse dieses Jahres.
Chester Himes. Lauf Mann, lauf!
Deutsch von Manfred Görgens, Unionsverlag Zürich 1998, 250 Seiten,
sFr. 14.90
Short Stories von David Sedaris
Deutsch
von Harry Rowohlt
Die Qual der Wahl: wer nicht immer nur Bücher seiner LieblingsautorInnen
lesen will, findet sich jeden Frühling und Herbst vor meterhohen Stapeln
von Neuerscheinungen. Soll ich mir die Bücher nach Verlagen aussuchen,
den Klappentexten, die mir immer öfter ein «Jahrhundertwerk»
versprechen, glauben oder gar nach Umschlag oder Farbe (Rot! Grün!)
entscheiden? Wenn mir gar nichts mehr einfällt nehme ich einfach ein
Buch meines Lieblingsbarträgers, -trinkers und Flann O’Brian-Übersetzers.
Wo «Deutsch von Harry Rowohlt» draufsteht ist immer Qualität
drin. So dass man unbesehen David Sedaris Short-Stories-Sammlung
«Nackt» zur Hand nehmen kann. Der Lesegenuss lässt nicht
auf sich warten. In der Titelgeschichte erfahren wir alles über die
Mühen mit dem Körper im Nudistencamp, – wohin mit der Brieftasche?
– und die Wichtigkeit von Handtüchern. Alles ist wahr, versichert
der New Yorker Autor und erzählt in «Ich mag Jungs» die
Geschichte des verknorksten Coming-out eines Teenagers – dreissig
Tage Verstopfung im Ferienlager, oh weh! Und «Familienbande»,
ist das haarsträubendste, das ich je über Sex in der Familie
gelesen habe. (Felix Saltens «Mutzenbacher» ist ein Witz dagegen.)
Alles in allem genau das abgefahrene Buch mit 17 Stories für die abgefahrenen
Toaster-LeserInnen, die ich beim Schreiben immer vor Augen habe.
David Sedaris, Nackt, aus dem Amerikanischen von Harry
Rowohlt, Haffmans Verlag Zürich 1999, 350 Seiten, sFr. 39.--
Italien nach dem Krieg
Schatten
der Vergangenheit
Was machen italienische Autonome, die in die Jahre kommen? Sie entdecken
die AC-Milan-Fans als neues revolutionäres Subjekt wie Nanni Balestrini
vor einigen Jahren in «I furiosi». Oder... Oder sie schreiben
sehnsüchtige Romane über die Insel Ischia, dem Meere trotzende
Fischer (der alte Mann und das Meer von Hemingway lässt grüssen!)
und erinnern an die einfachen Leute auf dem Land, die es in den frühen
50ern noch gegeben hat... Doch halt: Erri De Lucas Buch, das ich mit leisen
bis halblautem Spott zu lesen begonnen hatte, ist kein nostalgischer Trip,
auch wenn die traumumwundene Atmosphäre bis zum Schluss aufrecht erhalten
bleibt. Immer tiefer dringt der junge Ich-Erzähler in die Vergangenheit,
die seine Eltern und deren Generation nur noch vergessen wollen, ein. Was
war im Krieg? Der Fischer Nicola erzählt stockend von den Verbrechen
in Jugoslawien. Und als das geheimnisvolle Mädchen Caio auf der Insel
auftaucht, wird dem Jungen klar, dass sie etwas mit den Geschichten Nicolas
und seinem Wunsch die Vergangenheit zu verstehen, zu tun hat. Ein seltsam
berührendes, beunruhigendes Buch.
Erri De Luca, Das Meer der Erinnerung, Roman, Deutsch
von Tobias Eisermann, Rowohlt Verlag Reinbek b. Hamburg 1999, 125 Seiten,
sFr. 32.--
|