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«Solange ich verletzlich
bleibe,
kann ich weiterschreiben.»
Sie hat eben ihren ersten Roman veröffentlicht, ist aber
schon seit fünfzehn Jahren im Geschäft. Eine Begegnung mit der
Zürcher Schriftstellerin Aglaja Veteranyi.
Es ist zwei Uhr Nachmittags. Langsam verebben die Geräusche
in der Kronenhalle am Zürcher Bellevue; die letzten Wagen mit Essen werden
zu den Gästen geschoben; ganze Heerscharen von Kellnern huschen vorbei;
am Tisch nebenan wählt der Mann von Welt eine Zigarre; der Rauch steigt
auf an den Gemälden der alten Meister vorbei zur hohen Decke. Und alles
ist ein wenig alt und gelb – die Patina vergangener Zeiten, als Max Frisch
und Friedrich Dürrenmatt um die Wette schmauchten, hat sich hier festgesetzt.
Die Schriftstellerin und Schauspielerin Aglaja Veteranyi liebt diesen Ort,
und wer ihr zuhört, merkt, wie sich der Raum verwandelt, sich mit ihren
Worten füllt, wenn sie über ihren ersten Roman «Warum das
Kind in der Polenta kocht», über Tod und Leben und die Leidenschaft
des Schreibens spricht.
Im Buch, erschienen diesen Sommer,
wird die Geschichte einer Familie erzählt, die aus Rumänien in
den Westen flieht, dort aber fremd bleibt und auseinanderbricht. Geschildert
wird das Leben in der Zirkusmanege, in Hotels, Heimen und billigen Varietés
aus der Sicht eines Kindes. «Ich konnte nur so und nicht anders schreiben.
Nur aus der Perspektive des Kindes heraus, war ich fähig, all das Grausame,
Unmoralische dieser Geschichte zu erzählen.» Allgegenwärtig
ist der Tod. Die Mutter hängt in der Kuppel des Zirkus an den Haaren,
und um das kleine Mädchen zu beruhigen erzählt die grosse Schwester
die Geschichte vom Kind, das in der Polenta kocht. «Viele Leute und
auch ein Teil der Medien erwarten vom Buch, dass sie mitgenommen werden
in eine nostalgische Zirkuswelt. Wer das Buch liest, wird aber sofort merken,
dass das mit der Realität nichts zu tun hat.» Sterben, Erfahrung
der Fremde und Abschied sind die Themen, die Veteranyi in wunderbar präzisen,
meist sehr kurzen Sätzen in Sprache gefasst hat. Bei Lesungen im Ausland
lobe man die Leichtigkeit der Form, sagt sie. In Deutschland und der Schweiz
begegne man dem knappen Stil mitunter mit Misstrauen. Man sieht den einfachen
Sätze die Arbeit, die darin steckt nicht gleich an.
Ausbruch aus der geistigen Öde
Ich komme auf die vielen grausamen
Szenen im Roman zu sprechen. Im Kinderheim muss aus Strafe das Erbrochene
mit aufgegessen werden. Im Varieté wird dem Mädchen, weil es
noch zu jung ist, um nackt aufzutreten ein behaartes Dreieck zwischen die
Beine geklebt, gleichzeitig aber wacht die Mutter mit Argusaugen über
dem Kind. Für Aglaja Veteranyi ist der gegen die Mutter gerichtete Wunsch
– «Mich hat noch nie ein Mann am richtigen Ort berührt. Ich denke
an nichts anderes. Ich will von zweien gleichzeitig vergewaltigt werden.»
– so schockierend er auch tönt, etwas Befreiendes. Die Oberfläche
einer scheinheiligen Welt bekommt Risse. Verdrängtes, wie das Verhältnis
des Vaters mit der Schwester kommt zum Vorschein. «Wir stehen täglich
vor der Wahl, Opfer oder Täter zu sein», zitiert Veteranyi einen
Satz von Hilde Domin. «Das Mädchen, die junge Frau versucht sich
aus dem primitiven Verhalten der Familie, die sich immer nur als Opfer der
Verhältnisse wahrnimmt und in einer geistigen Öde lebt, auszubrechen.»
In den vielen Deutungen der Geschichte des Kindes, das in der Polenta kocht,
wechseln Opfer- und Täterrolle. Veteranyi betont denn auch das Parabel-,
Gleichnishafte nicht nur dieser Geschichte, sondern des ganzen Romans. Soviel
die Schriftstellerin auch über ihren Roman zu erzählen weiss, die
Faszination bleibt ungebrochen, da wird nichts zerredet oder zu Tode erklärt,
weil man stets die Präsenz und das Engagement dieser Frau hinter dem
Text spürt.
In Diskussionen wird Veteranyi
immer wieder mit der Frage nach dem Autobiografischen im Text konfrontiert.
«Der Maler Henri Matisse sagte einmal ’Genauigkeit ist nicht Wahrheit.’
Der Roman ist nicht meine Lebensgeschichte; ich muss mir beim Schreiben jede
Freiheit nehmen und sprachlich so präzis wie möglich sein. »
Veteranyi hat sich in den fünfzehn Jahren, in denen sie schreibt, immer
wieder mit dem Stoff, der nun ihr erstes Buch geworden ist, beschäftigt.
Der Verlag und die Autorengruppe «Netz» haben ihr geholfen,
die richtige sprachliche Form zu finden. Angst, das nun das Etikett «Zirkusroman»
an ihr kleben bleibt, hat sie nicht. Ganz anders werde ihr neues Buch, und
Schreiben sei für sie, die vor dem Roman schon eine grosse Zahl von Kurzgeschichten
veröffentlicht hat, eine – mit zunehmend mehr Freude als Qual verbundene
– alltägliche Arbeit: «Solange ich verletzlich bleibe, kann ich
weiterschreiben.»
(c) by Felix Epper, 2000
Aglaja Veteranyi,
Warum das Kind in der Polenta kocht. Roman, Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart
1999, 190 Seiten, sFr. 27.50
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Aglaja Veteranyi
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Geboren 1962 in Bukarest.
Stammt aus einer Zirkusfamilie, Schauspielausbildung, seit 1982 freischaffende
Schauspielerin und Autorin. 1993 Gründung der literararischen Experimentier
Gruppe «Die Wortpumpe» mit René Oberholzer. 1996 Gründung
der Theatergruppe «Die Engelmaschine» mit Jens Nielsen. 1998
Stipendium im literarischen Colloquium Berlin.
Das Buch
Aglaja Veteranyi, Warum
das Kind in der Polenta kocht. Roman, Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 1999,
190 Seiten, sFr. 27.50
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