Politik und Gesellschaft
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«Wir bleiben bis ihr geht» hiess es vor zehn Jahren in Neuchlen-Anschwilen

Von |F|E|L|I|X|| E|P|P|E|R

Die Linke begeht ihre Jahrestage – Globuskrawall, Kaiseraugust, Opernball. Generationen haben sich die Meriten an die Lederjacken geheftet – auch ein paar Hundert OstschweizerInnen vor 10 Jahren in Neuchlen -Anschwilen. Ein Veteranentreffen fand nicht statt. Was ist aus den CampteilnehmerInnen von damals geworden?

April 2000
 

1975: Besetzung des Baugeländes Kaiseraugst. Ich vervollständige meine Panini-Bildchen-Sammlung zur Fussball-WM 74. Das EMD erwirbt 70 ha Boden in Neuchlen-Anschwilen. Erste Projektskizzen für den Waffenplatz werden publik. Man diskutiert nie über Politik bei uns zu Hause in Gossau (SG).

Memoiren I: In der elterlichen Wohnung eine Kiste mürbes Papier, Zeitungsfetzen, alte Protokolle, nie geordnet, nie vergessen. Man überlässt all das den Spinnen: die alten Liebesbriefe ganz unten in der Schachtel und Gedichte, Militärschuhe,  weichgetreten im Regen, Schnee, Morast – noch voller Lehm aus dem Frühling damals. Als Kind bin ich Dutzende Male im kleinen froschgrünen Fiat hochgefahren worden, durchs Strassendorf Gossau, durch das Plattenbau-Quartier Mettendorf, unter der Autobahn zum Parkplatz des Walter-Zoos. Immer wieder nach Neuchlen, und wir fütterten die Affen, Bären und Hängebauchschweine in ihren armseligen Käfigen. Wir Kinder liebten den kleinen Zoo.

Sommer 1989: Meine Militärkarriere dauert zehn Tage. Die «Dienstage» in Neuchlen-Anschwilen dann bedeutend länger. Ich nehme nicht teil an den ersten Protestaktionen einiger Jusos anlässlich der Vertragsunterzeichnung zwischen den Waffenplatzgemeinden und dem EMD in Gossau. Im Herbst stimmen 36,5% für die Abschaffung der Armee. Die ARNA (Aktionsgruppe zur Rettung von Neuchlen-Anschwilen) wird gegründet.

Rosa B. war von Anfang an dabei. Sie war damals eine «zornige junge Frau». Wenn sie das Wort ergriff, sprühten Funken, entflammten sich die Herzen. Sie verstand es, die unterschiedlichsten Leute zu begeistern, obwohl sie eine der jüngsten war. Das Wort Betroffenheit hat heute vielleicht einen etwas seltsamen Beigeschmack – aber ohne das Engagement von Leuten wie Rosa B. wäre nichts geworden aus dem Widerstand. Jetzt sitzen wir an einem Tisch in einer WG-Küche und reden über damals, ab und zu lachen wir auch. Wie ich nun all das protokolliere, frage ich mich immer wieder: Haben wir wirklich daran geglaubt?

« Ich habe erst 1989 vom Waffenplatzprojekt erfahren. Wir waren eine kleine Gruppe und wollten etwas in Bewegung setzen. Ich kannte und liebte die Landschaft, war als Kind viel dort herumgestreift. Ich war damals ich in der JUSO aktiv und durch die GSoA-Initiative politisiert worden. Wir machten uns zu zweit auf, um Leute für unser Anliegen zu gewinnen, gerieten dann an den Grünen Kantonsrat Hansueli Trüb, der sich früher mal ohne grossen Erfolg in einer bürgerlich geprägten Gruppe  engagiert hatte. Hansueli führte uns durch die Gegend, zeigte uns einen Film über die direkten Aktionen gegen die Donaukraftwerke in Hainburg. Mich haben die Leute, die sich da an die Bäume gekettet haben, sehr beeindruckt. Wir wollten auch gewaltfreien Widerstand leisten. Reichlich naiv versuchten wir Kontakt mit den St.Galler Autonomen. Die haben uns recht misstrauisch gemustert und mit tausend Fragen gelöchtert. Wieso dieses Konzept der Gewaltfreiheit, welches Politverständnis…? Alles Dinge, die für uns nicht wichtig waren.  Die Autonomen haben sich dann auch nicht in Neuchlen blicken lassen. Mehr Erfolg hatten wir mit Jugendlichen aus der Umgebung. Es fanden erste klandestine Treffen statt. Gleichzeitig ergaben sich offizielle Kontakte zu Gruppen und Parteien und im Oktober 1989 wurde die ARNA gegründet.»

Hansueli Trüb hat heute mit seinem «Theaterpack» eine eigene Bühne im Aargau. Er war der ruhende Pol des Widerstandes. Der struppige Bart ist weg, geblieben sind der wache Blick und die ruhige Stimme. Hansueli, der «Grüne mit dem Auto», wie ihn die Waffenplatzbefürworter schimpften, hatte als Anwohner eine Fahrerlaubnis im Gelände. Er chauffierte vor allem zu Beginn des Widerstandes immer wieder AktivistInnen vom Bahnhof Gossau nach oben. In Neuchlen erwartete ihn dann die Polizei mit einer Waage. Waren mehr als zehn Leute im Wagen, gab‘s eine Busse.

« Antimilitarismus war mir schon immer ein wichtiges Anliegen. Ich habe den Dienst und die Zahlung des Militärpflichtersatzes verweigert. Vom Bauprojekt war ich unmittelbar betroffen, ich wohnte nur zehn Gehminuten vom zukünftigen Waffenplatz entfernt. Ich kann nicht für andere sprechen, aber ich denke, dass Kaiseraugst – die Besetzung des AKW-Geländes –, Rothenturm – eine erfolgreiche Initiative für Umweltschutz auch beim Militär –, die Armeeabschaffung und der Aufbruch in den Ostblockstaaten die Hauptbezugspunkte des Widerstandes waren.  Neuchlen-Anschwilen war das richtige Objekt. Wir waren am Puls der Zeit, auch wenn wir viele Tiefschläge einstecken mussten.»

Wolfgang Logoz ist heute in einem Kommunikationsbüro tätig. Ich bin mit ihm zusammen unterwegs im Zug von Zürich nach St.Gallen. Im Abteil gegenüber sitzen drei Kiddies, ausgestattet mit der modernstem Hig-Tech. Wolfgang hat sich von allen Befragten äusserlich am meisten verändert. Aus dem jungenhaften Gesicht sind härtere männliche Züge geworden – soll man die Kurzhaarfrisur modisch nennen? In der Zeit seiner Technobegeisterung sind wir uns fremd geworden, doch heute streiten wir wieder gerne. Wir haben uns schon damals gestritten – Zeit hatte man ja, beim Warten auf Bullen und Bagger.

« Ich war bis anhin nicht eigentlich ein politisierter Mensch gewesen. Ich hatte eine Zeit hinter mir, in der ich mich religiös engagiert hatte und orientierte mich gerade neu. Man kann schon sagen, dass mich Neuchlen-Anschwilen politisiert hat: man konnte dort was tun, statt immer nur zu palavern. Weihnachten 1989 war ich das erstemal oben, und ein gewisser Felix Epper stand im Scheine des Mahnfeuers und zeigte mit Feldherrengeste übers Land: «All das wird einmal vom EMD überbaut werden!» – Ich stiess dann am zweiten oder dritten Bautag im April 90 wieder dazu und blieb gleich mehrere Wochen im Camp. Die Landschaft und die Menschen dort wurden mir sehr wichtig.»

26. März 90: Errichtung des Camps im Wissholz-Wald nahe dem geplanten Waffenplatz. Ab und zu schauen die Polizei oder ein Vertreter der Gemeinde vorbei, doch die bärtigen und langhaarigen Waldbewohner berufen sich auf das Recht der Fahrenden. Diesen Frühling werden «sie» beginnen zu bauen. «Sie» – «Wir», die Fronten sind klar abgestreckt. , lernen wir in den gewaltfreien Trainings. Das ist Theorie. Manchmal kommen Leute aus der schweigenden Mehrheit der Umgebung mit Brot oder einer Kanne Milch. Es ist kalt.

Erich Keller habe ich am Bauzaun kennengelernt. Er fischte gerade ein Buch von Heisenberg über die Quantenphysik aus dem Bauschlamm oder debattierte über Grundprobleme der Philosophie. Wir hatten beide Sloterdjiks «Kritik der zynischen Vernunft» gelesen, glaubten aber nicht, unserem Schicksal als «scheissaufhäufendem Industrietier Mensch» hier oben zu entrinnen, nur weil wir Löcher im Wald gruben, um nach Pfadiart dort unsere Notdurft zu verrichten. Ohne Leute wie Erich hätte ich die «Jesusfraktion» dort oben wohl kaum so lange ausgehalten.

« 1980 war ich in Zürich, um mir AC/DC-Platten anzuhören, und dort bin ich zum ersten Mal auf die AJZ-Bewegung gestossen. Obwohl ich mit meinen zwölf Jahren auch schon meine Erfahrungen mit der «Schmier» hatte habe ich das damals eher abgelehnt, diese «Bewegung». Aber dann ging es doch los mit den wilden 80er-Jahren mit Punk und Hardcore: Wir mussten uns organisieren, um Konzerte gegen Faschos zu schützen. Antirassismus wurde so zu einem wichtigen Inhalt. Auch die Anti-AKW-Bewegung hat mich sehr geprägt. Ich bin bis heute mit wechselnder Intensivität aktiv in verschiedenen Zusammenhängen.

Als es im April 1990 in Neuchlen-Anschwilen losging, war ich im Zivilschutz und hörte von Blockadeaktionen und Widerstand – und das vor meiner Haustür! Neu und fremd für mich war der  der Bewegung und das Prinzip Gewaltlosigkeit. Was mich bleiben liess, war die Unmittelbarkeit. Tag für Tag stand dir die Staatsgewalt gegenüber, das war nicht wie an einer Demo, wo nach ein paar Stunden alles vorbei ist.»

Was Michael Walther anpackte hatte Hand und Fuss. Er tippte die Pressecommuniques fünfmal in seine Hermes Baby, bis sie tadellos waren. Er war schnell und exakt zugleich – diesen Ansprüchen zu genügen war für viel nicht immer einfach. Ich habe ihn sicher sieben Jahre lang nicht gesehen, habe ab und zu seine Texte in der «Ostschweizer AZ» gelesen. Brechts Geschichte von Herrn K., der erbleicht, als ihm eine Bekannter sagt, er habe sich gar nicht verändert,  kommt mit in den Sinn. Äusserlichkeiten nur, die kurzen Haare, die elegantere Kleidung. Und am Treffpunkt des HB Zürich verabschiedet er sich vom Nationalrat Paul Rechsteiner, dem parlamentarischen Arm der Opposition. Willkommen in der Vergangenheit.

« Neuchlen-Anschwilen war Teil unserer Sozialisation; da gab es Fünfzehn-, Sechzehnjährige, die zum erstenmal im Leben draussen waren. Liebesbeziehungen entstanden, aus denen auch Kinder hervorgingen – die Waffenplatzopposition hat sich also bereits fortgepflanzt.. Vorher kannte ich vielleicht 250 Leute, danach 500. Heute treffe ich Waffenplatze-Bewegte mit unsern Kindern, und wir reden nicht über Neuchlen! Freundschaften, die damals geknüpft wurden, bedeuten mir auch heute noch viel. Wut und Wille haben uns zusammengeschweisst.

Susi Eppenberger, die damalige Toggenburger Nationalrätin, hat schon ein etwas geschnallt, als sie vor den Haschfixern dort oben im Wald warnte, die sich für Gratisstoff vor die Baumaschinen legen. Es war eine Szene, in der man sich wohlgefühlt hat – man hat was bekommen dafür, aber eben nicht Heroin.»

5. April 1990: Baubeginn um 7.00 Uhr früh. Ich büffle Latein im Tessin und sehe am Abend im «Telegiornale» die Bilder aus . Es ist wie wir es in den gewaltfreien Trainings geübt haben. Blockaden, passiver Widerstand.

7.April: Meine Freundin Sonja fliegt in die Sowjetunion. Ich radle am Zoo vorbei nach oben. Nass, dreckig und ineinander verknäult sitzen sie da im Gras.

Roas B.: « Ich war vor zwei Wochen nach langer Zeit wieder mal oben. Die Landschaft hat sich sehr verändert, vor allem wegen der 250m-Schiessanlage. Zuerst kommst du zur Kaserne, die eher aussieht wie ein anthroposophisches Zentrum; dann steht dort eine Tafel mit einer detaillierten Geschichte des Baus – der Widerstand ist mit keinem Wort erwähnt. Ich hätte gedacht, dass die das souveräner handhaben würden. Am absurdesten ist die Häuserkampfanlage mit Dorfbrunnen, farbigen Fensterläden und Strassenschildern. Wir haben uns das alles angeschaut, auch den Standort des Camps. Es war alles fremd, es hat mich überhaupt nicht berührt.

Wolfgang Logoz: « Das EMD verweigerte jede Diskussion. Als sie die Bagger auffuhren, wurde uns klar, dass es ihnen darum ging, vollendete Tatsachen zu schaffen. Um dies verhindern zu können, mussten wir tätig werden. Es ging nicht darum Gesetze zu brechen, auch wenn wir damit rechnen mussten, wegen Landfriedensbruch und Nötigung angeklagt zu werden. Ich bin auch jetzt noch überzeugt, dass das der richtige Weg war. An den Diskussionen über Gewalt und Gewaltfreiheit habe ich interessiert teilgenommen, wenn ich mich auch mit 22 noch zu jung fühlte, mich zu äussern. Die Position der total-gewaltfreien , denen schon ein Baumstamm auf der Strasse zuviel war, war mir zu fundamentalistisch. Umgekehrt hätte es der Bewegung zweifellos geschadet, wenn Bagger in die Luft gesprengt worden wären. Es war ein heikles Abwägen – auf keinen Fall kam für mich Gewalt gegen Menschen in Frage.

«Woodstock» und «Hair» wurden wieder einmal im Kino gezeigt und die Kinder der Liebe sprangen von der Leinwand, banden sich den Kartoffelsack fester um die Lenden, pilgerten nach Neuchlen-Anschwilen und warfen sich unter Einsatz des ganzen Körpers  in die gewaltfreie Schlacht. Am längsten und heftigsten waren die Rededuelle – man debattierte, bis sich alle einig waren. Nach Stunden war der gewaltfreie Konsens wieder gefunden. Die Rambos lagen in den Seilen. Keine Verletzung des Maschendrahts, keine Stämme auf die Strasse. Kein böses Wort an die Polizei… Irgendwann lagen dann doch Bäume auf der Strasse.

Rosa B.: « Damals ist für viele schon der Gesetzesbruch ein sehr grosser Schritt gewesen: Die Gewaltfreiheit hat uns viele Sympathien verschafft. Das EMD hätte es viel einfacher gehabt, uns zu denunzieren, und die Denkprozesse, die in Teilen der Bevölkerung eingesetzt haben, wären wohl abgeblockt worden. Der Fehler damals war, dass wir uns der Aufrüstung der Gegenseite beugten, die Gummischrot und dann später private Bewachungsfirmen mit Hunde gegen die GONA einsetzte. Wir hätten andere Orte für den Widerstand finden sollen. Es gab Ansätze dazu. Besuche im Parlament mit Luftballons oder in EMD-Chef Villigers Garten. Viele Leute vor Ort haben sich ins Camp zurückgezogen und sich ihrer Selbsterfahrung gewidmet.

4. Mai 1990: Grosskundgebung mit ca. 250 DemonstrantInnen. Massiver Polizeieinsatz mit Gummischrot und chemischen Kampfstoffen. Zweiundzwanzig Personen werden verhaftet. Ich darf Versuchskaninchen für neue Kampfstoffe der Polizei spielen. Das Mittel bleibt für Wochen im Haar und stinkt.

Erich: « Die Zeit damals war ja sehr dramatisch. Heute kann man es gelassener sehen. Ich würde mich nicht mehr an einer Widerstandsform beteiligen, die ich kontraproduktiv finde. Das Konzept der Gewaltlosigkeit beruht auf der Einhaltung von Regeln. Schon in der ersten Phase gab es Körperverletzungen, Dutzende von Verhaftungen. Und wie wolltest du im Herbst 1991 diese Protectas-Söldner, denen deine Anliegen am Arsch vorbei gingen, überzeugen? Die 250 Strafverfahren haben der Bewegung nichts gebracht, im Gegenteil. Die rechtliche Keule – eine Viertelmillion Franken Busse – hat den Widerstand arg angeschlagen. Ich hätte mir gewünscht, dass ein breiteres Konzept von Widerstandsformen akzeptiert worden wäre. Die GONA hätte nicht das Widerstandsmonopol für sich in Anspruch nehmen, sondern in einen kritischen Dialog mit Gruppen und Einzelpersonen treten sollen. An der grossen Demonstration auf dem Baugelände wurden Leute, die den Zaun niederreissen wollten, von den Gewaltfreien daran gehindert. Es war ein Potential von Leute dort, das man für ein breiteres Verständnis von Politik hätte gewinnen können. Ich halte es immer noch mit dem guten alten Karl: «Das Sein bestimmt das Bewusstsein.» Neue Aktionsformen hätten uns auch auf neue Wege gebracht. Wir wussten aber, dass das in der damaligen Situation eine Spaltung der Bewegung zur Folge gehabt hätte. Mehr Militanz wäre politisch verantwortungslos gewesen.

Nach der Räumung des ersten Camps im Juni 1990 und der Baupause verstreuen sich die GONA‘s wieder in alle Winde. Viele engagieren sich für die Initiative . Im September 1991 laufen die Telefone wieder heiss: Sie bauen wieder. Doch alles ist anders. Das EMD hat gelernt. Hundegebell, Flutlicht während der ganzen Nacht, schwarze Sonnenbrillen und kahle Köpfe – die private Bewachungsfirma «Protectas» hat das Baugelände besetzt. Es wird eisig auf Neuchlen-Anschwilen. Noch ein paar Mal stürzen sich Verwegene auf Gelände. Schlagstöcke, Würgegriffe, Tritte in den Unterleib und Hundebisse sind die Antwort. Pneus der Baumaschinen verlieren ihre Luft, doch das sind nur Nadelstiche. Ich hasse Hunde, bis heute – mit einer Ausnahme.

Hansueli Trüb: « Wir hätten mit mehr Gewalt nicht mehr erreicht. Ich habe mich persönlich solidarisiert mit gewissen Sabotage-Aktionen. Für die GONA wäre es aber strategisch völlig falsch gewesen, selbst diesen Weg zu gehen. Die Initiative brauchte es genauso wie die direkten Aktionen zu Beginn der Bauarbeiten.

Michael Walther: « Einer der Aktivisten hat in der heissen repressiven Phase zu mir gesagt: ich hier sterbe, ist mir das egal! Das hat mich sehr erschüttert. Nein, wenn‘s Tote gibt, dann ist Schluss. Ich sah das eher taktisch-politisch, auf der  sozusagen. Wenn das hier oben eskaliert, dann haben wir den Kredit verspielt.

6. Juni 1993: Abstimmung über die Waffenplatz-Initiative zusammen mit der GSoA-Volksinitiative «für eine Schweiz ohne neues Kampfflugzeuge». Es ist ein heisser Tag und ich treffe meine zukünftige unglückliche Liebe. Am Zürihorn blicke ich in viele Gesichter und versuche das Abstimmungsresultat aus ihnen zu lesen. Es gelingt mir nicht, aber ich ahne nichts Gutes. Die Waffenplatz-Initiative wird mit 44,7 Ja- zu 55,3-Nein-Stimmen abgelehnt.

Michael Walther: « Die grosse Politik ist mir heute, offen gesagt, zu blöd. Wofür ich mich noch einsetze, das sind Kultur und Bildung. Da liegt viel mehr Kreativität drin. Der einzelne Mensch ist unendlich viel interessanter, als dieses binäre politische System.

Vier Jahre meines Lebens hab ich in diesen Kampf reingesteckt. Nicht nur ich stand 1993 nach der Abstimmungsniederlage vor einem riesigen Loch. Aber insgesamt hatten wir einen ganz grossen Erfolg. Heute sehen es die Leute ein, dass wir damals Recht hatten. Sogar Johann C. Krapf, der Gemeindeammann von Gossau, glaubt wohl nicht mehr, dass seine Gemeinde Bankrott gegangen wäre, wenn man den Waffenplatz nicht gebaut hätte. Und die Ökologie wurde ein Thema fürs Militär. Das VBS hat ja all unsere Vorschläge durchgesetzt. Nur dass wir Peter Weigelt, der die Waffenplatzbefürworter organisiert hatte, beim Sprung in Nationalrat oder Waffenplatzprojektleiter Hans-Ulrich Solenthaler in den Generalstab geholfen haben, das wurmt mich noch.

Jeder Jugend ihre Bewegung? Vielleicht. Ich finde es toll, wie junge Leute in St.Gallen das Bavaria besetzten, oder dass es die OrganisatorInnen der Demo in Davos geschafft haben, die stille Zusammenkunft der Mächtigen der Welt durcheinanderzubringen. Aber ich bin nicht mehr bereit, soviel wie damals in ein politisches Projekt zu stecken.

Die meisten von uns haben in der Zwischenzeit das 30. Jahr hinter sich gebracht. Eine Jugend, unter Umständen ein Coming-out, die grauen Schläfen, vielleicht immer wieder die Staatsgewalt oder doch Family & Kids. Die Empörung ist schon lange in Dosen verpackt und gebunkert für bessere Zeiten. Und doch ist es mir nicht peinlich, Leute von damals wieder zu sehen. Wie anders bei Klassentreffen, wo man die immergleichen Geschichten und Lügen widerkäuen muss – all die Verwüstungen in den Gesichtern feststellen. In Neuchlen-Anschwilen war etwas anderes greifbar.

Hansueli: « Ich habe ja mein Kantonsratsmandat, das mich zermürbt hat, schon vorher abgegeben. Die Politik der kleinen und kleinsten Schritte war nie meine Sache. Und nach dem 6. Juni 1993 musste ich mich neu orientieren. Ich hatte soviel in dieses Engagement gesteckt und auch meine Familie sehr stark belastet – das ging bis zu Morddrohungen –, dass ich mit der aktiven Politik aufgehört habe. Ich hatte auch meine Theaterarbeit am Schluss fast völlig vernachlässigt. Dazu kam ein Umzug in den Aargau. Heute mache ich noch ab und zu Politsendungen am Aargauer Radio «Kanal K» oder werde vom der Uni Lausanne als Experte für eine Beamtenschulung in Konfliktverhalten am Beispiel Neuchlen-Anschwilen eingeladen. Da gab es ein Wiedersehen mit dem ehemaligen Waffenplatz-Projektleiter Solentahler.

Würde in Zukunft irgendwo ein ähnlicher aktiver Widerstand aufflammen, würde ich da sicher mal vorbeischauen. Eine ähnlich führende Rolle werde ich aber bestimmt nie mehr einnehmen.

Rosa B.: « Mir hat der Widerstand sehr viel Power gegeben. Das hat auch damit zu tun, dass ich mich  nicht an der Initiativarbeit beteiligt habe. Da hat man viel zu sehr auf taktische Aspekte geschaut und die Frechheit aufgegeben, für mich mit ein Grund für den Niedergang der Bewegung. Es war auch typisch, dass es fast ausschliesslich Männer waren, welche die verantwortlichen Positionen innehatten, und die Frauen besorgten den Kleinkram. Da hat sich eine Tendenz, die sich schon in den Zeiten der GONA abgezeichnet hat, verschärft. Die Männer kommunizieren nach aussen und die Frauen hatten sich um die Beziehungsarbeit zu kümmern. Gemeinsames Abwaschen und Kochen im Camp reicht eben noch nicht.

Wolfgang: « Wenn nicht so viele junge Leute hier im Zug wären, würde ich jetzt laut schimpfen... Wir waren wohl wirklich die letzte grosse soziale Bewegung nach 80. Ich habe die Technozeit in den 90ern ja selbst mitgemacht, teilweise sehr intensiv. Politik, gesellschaftliche Zusammenhänge, das alles war dort nicht mehr so wichtig. Das hat wohl auch mit dem Umgang mit den Drogen zu tun. Haschen bedeutet nicht, sich vor der Wirklichkeit zu drücken. Hanf macht dich friedlich, belässt dir aber deine Kritikfähigkeit. Heute aber kiffen sich viele Junge die Birne voll und saufen dazu, nur um nichts mehr zu spüren. Nichts mehr von wegen Bewusstsein erweitern, stattdessen: Bigger, faster, more. Ecstasy ist dafür typisch – diese Droge macht dich nur noch friedlich, friedlich, friedlich. Keiner ist mehr bereit, sich den Arsch aufzureissen. Ich schliesse mich dabei nicht aus. Wir, die , starren mittlerweile gebannt auf die globalisierte Welt, die wir so nie wollten, und die Zwanzigjährigen interessieren sich vor allem für Games, Handys und Autos.

Es fehlen Ansätze für eine neue kreative Politik. Viele Fragen sind auch sehr komplex. Da war unsere Verteidigung der «Scholle» doch viel fassbarer.

Erich Keller: « Warum gerade der Widerstand gegen den Waffenplatz Neuchlen-Anschwilen so heftig und lang anhaltend war? Wenn ich die Frage wirklich beantworten könnte, wären wir ja in der Lage, politische Kämpfe ganz gezielt vorbereiten. Nein, es gibt keine Patentrezepte. In Neuchlen-Anschwilen hat ein stark irrationales Element mitgespielt. Das war die Stärke und Schwäche der Bewegung. Ich habe die Motivation vieler Leute dort oben, ehrlich gesagt, nicht verstanden, es gab sehr viele Widersprüche. Ansätze zu einer Politisierung, die über die einfache Frage  ausging, gab es. Die beiden Sommerunis auf dem Gelände oder die handfesten Auseinandersetzungen mit Faschos, die zweimal das Camp angegriffen haben.

Vielleicht sind die Ex-Gonas sich gar nicht so untreu geworden. Der Crash mit der Realität ist wohl sanfter, wenn man sich Ziele wie die Verhinderung eines Waffenplatzes setzt und nicht gleich die Weltrevolution und dann mit einem Computer in einem Büro endet.

Memoiren II: Im Herbst 1989, als sich die AktivistInnen gegen des Waffenplatz zu sammeln begannen, erinnerte ich mich wieder. Mir wurde bewusst, dass ich die Landschaft, die schützenswerte, die bedrohte, nur zweimal betreten hatte. An einem Sonntag wurde wegen des grossen Andrangs im Zoo eine Wiese oberhalb des Weilers Neuchlen als Parkplatz geöffnet. Und einmal, ich war zehn Jahre alt, einmal nur, durchwanderten wir mit unserer Mutter die Landschaft, stiegen auf steilen Wegen in den Wald hinab, barfuss durch Bäche. «Es war so schön wie nichts auf der Welt.» Ich fühlte mich wie die kleine Luise in Kästners «Doppelten Lottchen» nach dem Ausflug ins Gebirge. Die Kühle des Waldes, die Wärme der Sonne, Glück für Sekunden, Minuten gar; und natürlich kam sie bald wieder die Traurigkeit, als wir zur Ebene hinunterstiegen am Waffenplatz Breitfeld vorbei – so stelle ich es mir heute vor. Namen sagten mit nichts. Nur Staub und Kies unter den Sohlen. Es gab viele Spaziergänge in meinem Leben, und doch hat sich dieser tief eingeprägt. Keinen Baum, kein Haus habe ich wiedererkannt zwölf Jahre später.

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