1975: Besetzung des Baugeländes Kaiseraugst. Ich
vervollständige meine Panini-Bildchen-Sammlung zur Fussball-WM
74. Das EMD erwirbt 70 ha Boden in Neuchlen-Anschwilen. Erste
Projektskizzen für den Waffenplatz werden publik. Man diskutiert
nie über Politik bei uns zu Hause in Gossau (SG).
Memoiren I: In der elterlichen
Wohnung eine Kiste mürbes Papier, Zeitungsfetzen, alte Protokolle,
nie geordnet, nie vergessen. Man überlässt all das den Spinnen:
die alten Liebesbriefe ganz unten in der Schachtel und Gedichte,
Militärschuhe, weichgetreten im Regen, Schnee, Morast – noch
voller Lehm aus dem Frühling damals. Als Kind bin ich Dutzende
Male im kleinen froschgrünen Fiat hochgefahren worden, durchs
Strassendorf Gossau, durch das Plattenbau-Quartier Mettendorf,
unter der Autobahn zum Parkplatz des Walter-Zoos. Immer wieder
nach Neuchlen, und wir fütterten die Affen, Bären und Hängebauchschweine
in ihren armseligen Käfigen. Wir Kinder liebten den kleinen
Zoo.
Sommer 1989: Meine Militärkarriere dauert zehn
Tage. Die «Dienstage»
in Neuchlen-Anschwilen dann bedeutend länger. Ich nehme
nicht teil an den ersten Protestaktionen einiger Jusos anlässlich
der Vertragsunterzeichnung zwischen den Waffenplatzgemeinden
und dem EMD in Gossau. Im Herbst stimmen 36,5% für die Abschaffung
der Armee. Die ARNA (Aktionsgruppe zur Rettung von Neuchlen-Anschwilen)
wird gegründet.
Rosa B. war von Anfang an
dabei. Sie war damals eine «zornige junge Frau». Wenn sie das Wort ergriff, sprühten
Funken, entflammten sich die Herzen. Sie verstand es, die
unterschiedlichsten Leute zu begeistern, obwohl sie eine der
jüngsten war. Das Wort Betroffenheit hat heute vielleicht
einen etwas seltsamen Beigeschmack – aber ohne das Engagement
von Leuten wie Rosa B. wäre nichts geworden aus dem Widerstand.
Jetzt sitzen wir an einem Tisch in einer WG-Küche und reden
über damals, ab und zu lachen wir auch. Wie ich nun all das
protokolliere, frage ich mich immer wieder: Haben wir wirklich
daran geglaubt?
«
Ich habe erst 1989 vom Waffenplatzprojekt erfahren. Wir waren
eine kleine Gruppe und wollten etwas in Bewegung setzen. Ich
kannte und liebte die Landschaft, war als Kind viel dort herumgestreift.
Ich war damals ich in der JUSO aktiv und durch die GSoA-Initiative
politisiert worden. Wir machten uns zu zweit auf, um Leute
für unser Anliegen zu gewinnen, gerieten dann an den Grünen
Kantonsrat Hansueli Trüb, der sich früher mal ohne grossen
Erfolg in einer bürgerlich geprägten Gruppe
engagiert hatte. Hansueli führte uns durch die Gegend,
zeigte uns einen Film über die direkten Aktionen gegen die
Donaukraftwerke in Hainburg. Mich haben die Leute, die sich
da an die Bäume gekettet haben, sehr beeindruckt. Wir wollten
auch gewaltfreien Widerstand leisten. Reichlich naiv versuchten
wir Kontakt mit den St.Galler Autonomen. Die haben uns recht
misstrauisch gemustert und mit tausend Fragen gelöchtert.
Wieso dieses Konzept der Gewaltfreiheit, welches Politverständnis…?
Alles Dinge, die für uns nicht wichtig waren.
Die Autonomen haben sich dann auch nicht in Neuchlen
blicken lassen. Mehr Erfolg hatten wir mit Jugendlichen aus
der Umgebung. Es fanden erste klandestine Treffen statt. Gleichzeitig
ergaben sich offizielle Kontakte zu Gruppen und Parteien und
im Oktober 1989 wurde die ARNA gegründet.»
Hansueli Trüb hat heute mit seinem
«Theaterpack» eine eigene Bühne im Aargau. Er war der
ruhende Pol des Widerstandes. Der struppige Bart ist weg,
geblieben sind der wache Blick und die ruhige Stimme. Hansueli,
der «Grüne mit dem Auto», wie ihn die Waffenplatzbefürworter
schimpften, hatte als Anwohner eine Fahrerlaubnis im Gelände.
Er chauffierte vor allem zu Beginn des Widerstandes immer
wieder AktivistInnen vom Bahnhof Gossau nach oben. In Neuchlen
erwartete ihn dann die Polizei mit einer Waage. Waren mehr
als zehn Leute im Wagen, gab‘s eine Busse.
«
Antimilitarismus war mir schon immer ein wichtiges Anliegen.
Ich habe den Dienst und die Zahlung des Militärpflichtersatzes
verweigert. Vom Bauprojekt war ich unmittelbar betroffen,
ich wohnte nur zehn Gehminuten vom zukünftigen Waffenplatz
entfernt. Ich kann nicht für andere sprechen, aber ich denke,
dass Kaiseraugst – die Besetzung des AKW-Geländes –, Rothenturm
– eine erfolgreiche Initiative für Umweltschutz auch beim
Militär –, die Armeeabschaffung und der Aufbruch in den Ostblockstaaten
die Hauptbezugspunkte des Widerstandes waren. Neuchlen-Anschwilen war das richtige Objekt.
Wir waren am Puls der Zeit, auch wenn wir viele Tiefschläge
einstecken mussten.»
Wolfgang Logoz ist heute in einem
Kommunikationsbüro tätig. Ich bin mit ihm zusammen unterwegs
im Zug von Zürich nach St.Gallen. Im Abteil gegenüber sitzen
drei Kiddies, ausgestattet mit der modernstem Hig-Tech. Wolfgang
hat sich von allen Befragten äusserlich am meisten verändert.
Aus dem jungenhaften Gesicht sind härtere männliche Züge geworden
– soll man die Kurzhaarfrisur modisch nennen? In der Zeit
seiner Technobegeisterung sind wir uns fremd geworden, doch
heute streiten wir wieder gerne. Wir haben uns schon damals
gestritten – Zeit hatte man ja, beim Warten auf Bullen und
Bagger.
«
Ich war bis anhin nicht eigentlich ein politisierter Mensch
gewesen. Ich hatte eine Zeit hinter mir, in der ich mich religiös
engagiert hatte und orientierte mich gerade neu. Man kann
schon sagen, dass mich Neuchlen-Anschwilen politisiert hat:
man konnte dort was tun, statt immer nur zu palavern. Weihnachten
1989 war ich das erstemal oben, und ein gewisser Felix Epper
stand im Scheine des Mahnfeuers und zeigte mit Feldherrengeste
übers Land: «All das wird einmal vom EMD überbaut werden!»
– Ich stiess dann am zweiten oder dritten Bautag im April
90 wieder dazu und blieb gleich mehrere Wochen im Camp. Die
Landschaft und die Menschen dort wurden mir sehr wichtig.»
26. März 90: Errichtung des Camps im Wissholz-Wald
nahe dem geplanten Waffenplatz. Ab und zu schauen die Polizei
oder ein Vertreter der Gemeinde vorbei, doch die bärtigen
und langhaarigen Waldbewohner berufen sich auf das Recht der
Fahrenden. Diesen Frühling werden «sie» beginnen zu bauen.
«Sie» – «Wir», die Fronten sind klar abgestreckt. , lernen
wir in den gewaltfreien Trainings. Das ist Theorie. Manchmal
kommen Leute aus der schweigenden Mehrheit der Umgebung mit
Brot oder einer Kanne Milch. Es ist kalt.
Erich Keller habe ich am Bauzaun
kennengelernt. Er fischte gerade ein Buch von Heisenberg über
die Quantenphysik aus dem Bauschlamm oder debattierte über
Grundprobleme der Philosophie. Wir hatten beide Sloterdjiks
«Kritik der zynischen Vernunft» gelesen, glaubten aber nicht,
unserem Schicksal als «scheissaufhäufendem Industrietier Mensch»
hier oben zu entrinnen, nur weil wir Löcher im Wald gruben,
um nach Pfadiart dort unsere Notdurft zu verrichten. Ohne
Leute wie Erich hätte ich die «Jesusfraktion» dort oben wohl
kaum so lange ausgehalten.
«
1980 war ich in Zürich, um mir AC/DC-Platten anzuhören, und
dort bin ich zum ersten Mal auf die AJZ-Bewegung gestossen.
Obwohl ich mit meinen zwölf Jahren auch schon meine Erfahrungen
mit der «Schmier» hatte habe ich das damals eher abgelehnt,
diese «Bewegung». Aber dann ging es doch los mit den wilden
80er-Jahren mit Punk und Hardcore: Wir mussten uns organisieren,
um Konzerte gegen Faschos zu schützen. Antirassismus wurde
so zu einem wichtigen Inhalt. Auch die Anti-AKW-Bewegung hat
mich sehr geprägt. Ich bin bis heute mit wechselnder Intensivität
aktiv in verschiedenen Zusammenhängen.
Als es im April
1990 in Neuchlen-Anschwilen losging, war ich im Zivilschutz
und hörte von Blockadeaktionen und Widerstand – und das vor
meiner Haustür! Neu und fremd für mich war der
der Bewegung und das Prinzip Gewaltlosigkeit. Was mich
bleiben liess, war die Unmittelbarkeit. Tag für Tag stand
dir die Staatsgewalt gegenüber, das war nicht wie an einer
Demo, wo nach ein paar Stunden alles vorbei ist.»
Was Michael Walther
anpackte hatte Hand
und Fuss. Er tippte die Pressecommuniques fünfmal in seine
Hermes Baby, bis sie tadellos waren. Er war schnell und exakt
zugleich – diesen Ansprüchen zu genügen war für viel nicht
immer einfach. Ich habe ihn sicher sieben Jahre lang nicht
gesehen, habe ab und zu seine Texte in der «Ostschweizer AZ»
gelesen. Brechts Geschichte von Herrn K., der erbleicht, als
ihm eine Bekannter sagt, er habe sich gar nicht verändert,
kommt mit in den Sinn. Äusserlichkeiten nur, die kurzen
Haare, die elegantere Kleidung. Und am Treffpunkt des HB Zürich
verabschiedet er sich vom Nationalrat Paul Rechsteiner, dem
parlamentarischen Arm der Opposition. Willkommen in der Vergangenheit.
«
Neuchlen-Anschwilen war Teil unserer Sozialisation; da gab
es Fünfzehn-, Sechzehnjährige, die zum erstenmal im Leben
draussen waren. Liebesbeziehungen entstanden, aus denen auch
Kinder hervorgingen – die Waffenplatzopposition hat sich also
bereits fortgepflanzt.. Vorher kannte ich vielleicht 250 Leute,
danach 500. Heute treffe ich Waffenplatze-Bewegte mit unsern
Kindern, und wir reden nicht über Neuchlen! Freundschaften,
die damals geknüpft wurden, bedeuten mir auch heute noch viel.
Wut und Wille haben uns zusammengeschweisst.
Susi Eppenberger,
die damalige Toggenburger Nationalrätin, hat schon ein etwas
geschnallt, als sie vor den Haschfixern dort oben im Wald
warnte, die sich für Gratisstoff vor die Baumaschinen legen.
Es war eine Szene, in der man sich wohlgefühlt hat – man hat
was bekommen dafür, aber eben nicht Heroin.»
5. April 1990: Baubeginn um
7.00 Uhr früh. Ich büffle Latein im Tessin und sehe am Abend
im «Telegiornale» die Bilder aus . Es ist wie wir es in den gewaltfreien Trainings
geübt haben. Blockaden, passiver Widerstand.
7.April: Meine Freundin Sonja
fliegt in die Sowjetunion. Ich radle am Zoo vorbei nach oben.
Nass, dreckig und ineinander verknäult sitzen sie da im Gras.
Roas B.: «
Ich war vor zwei Wochen nach langer Zeit wieder mal oben.
Die Landschaft hat sich sehr verändert, vor allem wegen der
250m-Schiessanlage. Zuerst kommst du zur Kaserne, die eher
aussieht wie ein anthroposophisches Zentrum; dann steht dort
eine Tafel mit einer detaillierten Geschichte des Baus – der
Widerstand ist mit keinem Wort erwähnt. Ich hätte gedacht,
dass die das souveräner handhaben würden. Am absurdesten ist
die Häuserkampfanlage mit Dorfbrunnen, farbigen Fensterläden
und Strassenschildern. Wir haben uns das alles angeschaut,
auch den Standort des Camps. Es war alles fremd, es hat mich
überhaupt nicht berührt.
Wolfgang Logoz:
« Das EMD verweigerte
jede Diskussion. Als sie die Bagger auffuhren, wurde uns klar,
dass es ihnen darum ging, vollendete Tatsachen zu schaffen.
Um dies verhindern zu können, mussten wir tätig werden. Es
ging nicht darum Gesetze zu brechen, auch wenn wir damit rechnen
mussten, wegen Landfriedensbruch und Nötigung angeklagt zu
werden. Ich bin auch jetzt noch überzeugt, dass das der richtige
Weg war. An den Diskussionen über Gewalt und Gewaltfreiheit
habe ich interessiert teilgenommen, wenn ich mich auch mit
22 noch zu jung fühlte, mich zu äussern. Die Position der
total-gewaltfreien , denen schon ein Baumstamm auf der Strasse
zuviel war, war mir zu fundamentalistisch. Umgekehrt hätte
es der Bewegung zweifellos geschadet, wenn Bagger in die Luft
gesprengt worden wären. Es war ein heikles Abwägen – auf keinen
Fall kam für mich Gewalt gegen Menschen in Frage.
«Woodstock» und
«Hair» wurden wieder einmal im Kino gezeigt und die Kinder
der Liebe sprangen von der Leinwand, banden sich den Kartoffelsack
fester um die Lenden, pilgerten nach Neuchlen-Anschwilen und
warfen sich unter Einsatz des ganzen Körpers in die gewaltfreie Schlacht. Am längsten und
heftigsten waren die Rededuelle – man debattierte, bis sich
alle einig waren. Nach Stunden war der gewaltfreie Konsens
wieder gefunden. Die Rambos lagen in den Seilen. Keine Verletzung
des Maschendrahts, keine Stämme auf die Strasse. Kein böses
Wort an die Polizei… Irgendwann lagen dann doch Bäume auf
der Strasse.
Rosa B.: «
Damals ist für viele schon der Gesetzesbruch ein sehr grosser
Schritt gewesen: Die Gewaltfreiheit hat uns viele Sympathien
verschafft. Das EMD hätte es viel einfacher gehabt, uns zu
denunzieren, und die Denkprozesse, die in Teilen der Bevölkerung
eingesetzt haben, wären wohl abgeblockt worden. Der Fehler
damals war, dass wir uns der Aufrüstung der Gegenseite beugten,
die Gummischrot und dann später private Bewachungsfirmen mit
Hunde gegen die GONA einsetzte. Wir hätten andere Orte für
den Widerstand finden sollen. Es gab Ansätze dazu. Besuche
im Parlament mit Luftballons oder in EMD-Chef Villigers Garten.
Viele Leute vor Ort haben sich ins Camp zurückgezogen und
sich ihrer Selbsterfahrung gewidmet.
4. Mai 1990: Grosskundgebung
mit ca. 250 DemonstrantInnen. Massiver Polizeieinsatz mit
Gummischrot und chemischen Kampfstoffen. Zweiundzwanzig Personen
werden verhaftet. Ich darf Versuchskaninchen für neue Kampfstoffe
der Polizei spielen. Das Mittel bleibt für Wochen im Haar
und stinkt.
Erich: «
Die Zeit damals war ja sehr dramatisch. Heute kann man es
gelassener sehen. Ich würde mich nicht mehr an einer Widerstandsform
beteiligen, die ich kontraproduktiv finde. Das Konzept der
Gewaltlosigkeit beruht auf der Einhaltung von Regeln. Schon
in der ersten Phase gab es Körperverletzungen, Dutzende von
Verhaftungen. Und wie wolltest du im Herbst 1991 diese Protectas-Söldner,
denen deine Anliegen am Arsch vorbei gingen, überzeugen? Die
250 Strafverfahren haben der Bewegung nichts gebracht, im
Gegenteil. Die rechtliche Keule – eine Viertelmillion Franken
Busse – hat den Widerstand arg angeschlagen. Ich hätte mir
gewünscht, dass ein breiteres Konzept von Widerstandsformen
akzeptiert worden wäre. Die GONA hätte nicht das Widerstandsmonopol
für sich in Anspruch nehmen, sondern in einen kritischen Dialog
mit Gruppen und Einzelpersonen treten sollen. An der grossen
Demonstration auf dem Baugelände wurden Leute, die den Zaun
niederreissen wollten, von den Gewaltfreien daran gehindert.
Es war ein Potential von Leute dort, das man für ein breiteres
Verständnis von Politik hätte gewinnen können. Ich halte es
immer noch mit dem guten alten Karl: «Das Sein bestimmt das
Bewusstsein.» Neue Aktionsformen hätten uns auch auf neue
Wege gebracht. Wir wussten aber, dass das in der damaligen
Situation eine Spaltung der Bewegung zur Folge gehabt hätte.
Mehr Militanz wäre politisch verantwortungslos gewesen.
Nach der Räumung des ersten Camps
im Juni 1990 und der Baupause verstreuen sich die GONA‘s
wieder in alle Winde. Viele engagieren sich für die Initiative
. Im September 1991 laufen die Telefone wieder heiss: Sie
bauen wieder. Doch alles ist anders. Das EMD hat gelernt.
Hundegebell, Flutlicht während der ganzen Nacht, schwarze
Sonnenbrillen und kahle Köpfe – die private Bewachungsfirma
«Protectas» hat das Baugelände besetzt. Es wird eisig auf Neuchlen-Anschwilen.
Noch ein paar Mal stürzen sich Verwegene auf Gelände. Schlagstöcke,
Würgegriffe, Tritte in den Unterleib und Hundebisse sind die
Antwort. Pneus der Baumaschinen verlieren ihre Luft, doch
das sind nur Nadelstiche. Ich hasse Hunde, bis heute – mit
einer Ausnahme.
Hansueli Trüb: «
Wir hätten mit mehr Gewalt nicht mehr erreicht. Ich habe mich
persönlich solidarisiert mit gewissen Sabotage-Aktionen. Für
die GONA wäre es aber strategisch völlig falsch gewesen, selbst
diesen Weg zu gehen. Die Initiative brauchte es genauso wie
die direkten Aktionen zu Beginn der Bauarbeiten.
Michael Walther:
«
Einer der Aktivisten hat in der heissen repressiven Phase
zu mir gesagt: ich hier sterbe, ist mir das egal! Das hat
mich sehr erschüttert. Nein, wenn‘s Tote gibt, dann ist Schluss.
Ich sah das eher taktisch-politisch, auf der sozusagen. Wenn das hier oben eskaliert, dann
haben wir den Kredit verspielt.
6. Juni 1993: Abstimmung über
die Waffenplatz-Initiative zusammen mit der GSoA-Volksinitiative
«für eine Schweiz ohne neues Kampfflugzeuge». Es ist ein heisser Tag und ich treffe
meine zukünftige unglückliche Liebe. Am Zürihorn blicke ich
in viele Gesichter und versuche das Abstimmungsresultat aus
ihnen zu lesen. Es gelingt mir nicht, aber ich ahne nichts
Gutes. Die Waffenplatz-Initiative wird mit 44,7 Ja- zu 55,3-Nein-Stimmen
abgelehnt.
Michael Walther:
«
Die grosse Politik ist mir heute, offen gesagt, zu blöd. Wofür
ich mich noch einsetze, das sind Kultur und Bildung. Da liegt
viel mehr Kreativität drin. Der einzelne Mensch ist unendlich
viel interessanter, als dieses binäre politische System.
Vier Jahre meines Lebens hab ich in diesen Kampf reingesteckt.
Nicht nur ich stand 1993 nach der Abstimmungsniederlage vor
einem riesigen Loch. Aber insgesamt hatten wir einen ganz
grossen Erfolg. Heute sehen es die Leute ein, dass wir damals
Recht hatten. Sogar Johann C. Krapf, der Gemeindeammann von
Gossau, glaubt wohl nicht mehr, dass seine Gemeinde Bankrott
gegangen wäre, wenn man den Waffenplatz nicht gebaut hätte.
Und die Ökologie wurde ein Thema fürs Militär. Das VBS hat
ja all unsere Vorschläge durchgesetzt. Nur dass wir Peter
Weigelt, der die Waffenplatzbefürworter organisiert hatte,
beim Sprung in Nationalrat oder Waffenplatzprojektleiter Hans-Ulrich
Solenthaler in den Generalstab geholfen haben, das wurmt mich
noch.
Jeder Jugend ihre
Bewegung? Vielleicht. Ich finde es toll, wie junge Leute in
St.Gallen das Bavaria besetzten, oder dass es die OrganisatorInnen
der Demo in Davos geschafft haben, die stille Zusammenkunft
der Mächtigen der Welt durcheinanderzubringen. Aber ich bin
nicht mehr bereit, soviel wie damals in ein politisches Projekt
zu stecken.
Die meisten von
uns haben in der Zwischenzeit das 30. Jahr hinter sich gebracht.
Eine Jugend, unter
Umständen ein Coming-out, die grauen Schläfen, vielleicht
immer wieder die Staatsgewalt oder doch Family & Kids.
Die Empörung ist schon lange in Dosen verpackt und gebunkert
für bessere Zeiten. Und doch ist es mir nicht peinlich, Leute
von damals wieder zu sehen. Wie anders bei Klassentreffen,
wo man die immergleichen Geschichten und Lügen widerkäuen
muss – all die Verwüstungen in den Gesichtern feststellen.
In Neuchlen-Anschwilen war etwas anderes greifbar.
Hansueli: «
Ich habe ja mein Kantonsratsmandat, das mich zermürbt hat,
schon vorher abgegeben. Die Politik der kleinen und kleinsten
Schritte war nie meine Sache. Und nach dem 6. Juni 1993 musste
ich mich neu orientieren. Ich hatte soviel in dieses Engagement
gesteckt und auch meine Familie sehr stark belastet – das
ging bis zu Morddrohungen –, dass ich mit der aktiven Politik
aufgehört habe. Ich hatte auch meine Theaterarbeit am Schluss
fast völlig vernachlässigt. Dazu kam ein Umzug in den Aargau.
Heute mache ich noch ab und zu Politsendungen am Aargauer
Radio «Kanal K» oder werde vom der Uni Lausanne als Experte
für eine Beamtenschulung in Konfliktverhalten am Beispiel
Neuchlen-Anschwilen eingeladen. Da gab es ein Wiedersehen
mit dem ehemaligen Waffenplatz-Projektleiter Solentahler.
Würde in Zukunft
irgendwo ein ähnlicher aktiver Widerstand aufflammen, würde
ich da sicher mal vorbeischauen. Eine ähnlich führende Rolle
werde ich aber bestimmt nie mehr einnehmen.
Rosa B.: «
Mir hat der Widerstand sehr viel Power gegeben. Das hat auch
damit zu tun, dass ich mich
nicht an der Initiativarbeit beteiligt habe. Da hat
man viel zu sehr auf taktische Aspekte geschaut und die Frechheit
aufgegeben, für mich mit ein Grund für den Niedergang der
Bewegung. Es war auch typisch, dass es fast ausschliesslich
Männer waren, welche die verantwortlichen Positionen innehatten,
und die Frauen besorgten den Kleinkram. Da hat sich eine Tendenz,
die sich schon in den Zeiten der GONA abgezeichnet hat, verschärft.
Die Männer kommunizieren nach aussen und die Frauen hatten
sich um die Beziehungsarbeit zu kümmern. Gemeinsames Abwaschen
und Kochen im Camp reicht eben noch nicht.
Wolfgang: «
Wenn nicht so viele junge Leute hier im Zug wären, würde ich
jetzt laut schimpfen... Wir waren wohl wirklich die letzte
grosse soziale Bewegung nach 80. Ich habe die Technozeit in
den 90ern ja selbst mitgemacht, teilweise sehr intensiv. Politik,
gesellschaftliche Zusammenhänge, das alles war dort nicht
mehr so wichtig. Das hat wohl auch mit dem Umgang mit den
Drogen zu tun. Haschen bedeutet nicht, sich vor der Wirklichkeit
zu drücken. Hanf macht dich friedlich, belässt dir aber deine
Kritikfähigkeit. Heute aber kiffen sich viele Junge die Birne
voll und saufen dazu, nur um nichts mehr zu spüren. Nichts
mehr von wegen Bewusstsein erweitern, stattdessen: Bigger,
faster, more. Ecstasy ist dafür typisch – diese Droge macht
dich nur noch friedlich, friedlich, friedlich. Keiner ist
mehr bereit, sich den Arsch aufzureissen. Ich schliesse mich
dabei nicht aus. Wir, die , starren mittlerweile gebannt auf
die globalisierte Welt, die wir so nie wollten, und die Zwanzigjährigen
interessieren sich vor allem für Games, Handys und Autos.
Es fehlen Ansätze
für eine neue kreative Politik. Viele Fragen sind auch sehr
komplex. Da war unsere Verteidigung der «Scholle» doch viel
fassbarer.
Erich Keller: «
Warum gerade der Widerstand gegen den Waffenplatz Neuchlen-Anschwilen
so heftig und lang anhaltend war? Wenn ich die Frage wirklich
beantworten könnte, wären wir ja in der Lage, politische Kämpfe
ganz gezielt vorbereiten. Nein, es gibt keine Patentrezepte.
In Neuchlen-Anschwilen hat ein stark irrationales Element
mitgespielt. Das war die Stärke und Schwäche der Bewegung.
Ich habe die Motivation vieler Leute dort oben, ehrlich gesagt,
nicht verstanden, es gab sehr viele Widersprüche. Ansätze
zu einer Politisierung, die über die einfache Frage ausging, gab es. Die beiden Sommerunis auf dem
Gelände oder die handfesten Auseinandersetzungen mit Faschos,
die zweimal das Camp angegriffen haben.
Vielleicht sind
die Ex-Gonas sich gar nicht so untreu geworden. Der Crash
mit der Realität ist wohl sanfter, wenn man sich Ziele wie
die Verhinderung eines Waffenplatzes setzt und nicht gleich
die Weltrevolution und dann mit einem Computer in einem Büro
endet.
Memoiren II: Im Herbst 1989,
als sich die AktivistInnen gegen des Waffenplatz zu sammeln
begannen, erinnerte ich mich wieder. Mir wurde bewusst, dass
ich die Landschaft, die schützenswerte, die bedrohte, nur
zweimal betreten hatte. An einem Sonntag wurde wegen des grossen
Andrangs im Zoo eine Wiese oberhalb des Weilers Neuchlen als
Parkplatz geöffnet. Und einmal, ich war zehn Jahre alt, einmal
nur, durchwanderten wir mit unserer Mutter die Landschaft,
stiegen auf steilen Wegen in den Wald hinab, barfuss durch
Bäche. «Es war so schön wie nichts auf der Welt.» Ich fühlte
mich wie die kleine Luise in Kästners «Doppelten Lottchen»
nach dem Ausflug ins Gebirge. Die Kühle des Waldes, die Wärme
der Sonne, Glück für Sekunden, Minuten gar; und natürlich
kam sie bald wieder die Traurigkeit, als wir zur Ebene hinunterstiegen
am Waffenplatz Breitfeld vorbei – so stelle ich es mir heute
vor. Namen sagten mit nichts. Nur Staub und Kies unter den
Sohlen. Es gab viele Spaziergänge in meinem Leben, und doch
hat sich dieser tief eingeprägt. Keinen Baum, kein Haus habe
ich wiedererkannt zwölf Jahre später.