Vom alles beherrschenden Schatten der Vergangenheit über
Kambodschas Gegenwart zeugen nicht nur die 10'000'000 Landminen,
die weiterhin Tausende von Menschen verstümmeln. Der Fotograf
Daniel Schwartz, der das Land immer wieder besuchte, schlug in
seinem Referat einen Bogen von ersten europäischen Engagement
- 1863 vereinnahmte Frankreich Kampuchea in seine Kolonie Indochina
- über die 500'000 Opfer der amerikanischen Geheim-Bombenangriffe
in Kambodscha während des Vietnam-Krieges, hin zur Schreckensherrschaft
der Khmer Rouge. Dias aus der "Nachkriegszeit" illustrierten
seine Worte. Zynisch - oder muss man von Galgenhumor reden? -
kommentierte er ein Bild, das Dutzende von amerikanischen Bombenkratern
zeigte, die heute als Fischteiche dienen. Die US-Angriffe wurden
u.a. unter den Codeworten "Breakfast" oder "Lunch"
geflogen ...
Die Geschichte der Roten Khmer, die eine Umgestaltung der Gesellschaft
sondergleichen und eine Schreckensherrschaft im blutigsten Sinn
des Wortes praktizierten, ist in ihren groben Zügen bekannt.
In weniger als vier Jahren starben eine Million Menschen (es gibt
Schätzungen, die viel höher reichen); viele an Hunger,
Unterernährung und falsch behandelten Krankheiten, denn Pol
Pot lehnte die westliche Medizin ab. Besser war die Zusammenarbeit
mit dem amerikanischen Geheimdienst, die das 'Steinzeitkommunismus'-Regime
bis zum Schluss - und darüber hinaus unterstützte. Als
1979 die Terrorherrschaft mit Hilfe Vietnams endlich beendet wurde,
verweigerte die UNO unter Druck der USA und Chinas die Anerkennung
der neuen Regierung. Die UN bestanden auch darauf, dass die Khmer
Rouge in den Friedensprozess, der in den Wahlen von 1993 gipfelte,
einbezogen wurde. An den Wahlen, die eine Koalition aller Parteien
an die Macht brachten, beteiligten sich die Roten Khmer aber nicht;
inzwischen beherrschen sie wieder einen Fünftel des Landes,
organisieren den illegalen Export von Tropenhölzern und Edelsteinen
ins Ausland und sind - trotz dem Genozid der 70er Jahre für
viele KambodschanerInnen die einzige relevante politische Kraft.
Die DorfbewohnerInnen haben mehr Angst vor den offiziellen Truppen,
denen unterbezahlt kaum etwas anderes übrigbeliebt, als zu
plündern, als vor den Khmer Rouge. (1)
Nach dem Abzug der UNO, die nur zwei der vier gesteckten Ziele
erreichte, (von einer Befriedung der Konfliktparteien und der
Entminung kann keine Rede sein), nämlich die Repatrierung
der Flüchtlinge und die Abhaltung "freier Wahlen",
herrscht im Land Unsicherheit und Angst. Die Regierung isz handlungsunfähig,
die UNO-Mission brachte Prostitution, Drogenhandel und eine völlige
Abhängigkeit von ausländischen Finanzhilfen. Der Bürgerkrieg
geht schleichend weiter, die Entminung des Landes würde 160
Jahre dauern - und laufend werden neue Minen in die Erde vergraben;
Opfer sind oft Kinder, die mit den Büffel das Land pflügen.
Die Seelenfänger gehen um, wie Schwartz berichtete. Sie versprechen
den Leuten, dass die verstümmelten Gliedmassen wieder nachwachsen.
Die Religion ist Zuflucht für viele, die Karmalehre rechtfertigt
aber auch die Grausamkeiten und den Terror, der allgegenwärtig
ist. Kann man von einem spezifisch "kambodschanischen Grauen"
(2) sprechen, wie das David Chandler im Ausstellungskatalog tut?
Pol Pots "Schule"
Saloth Sar, ehemaliger Lehrer und Generalsekretär der kommunistischen
Zeit in "vorrevolutionärer Zeit", besser bekannt
unter dem Namen Pol Pot, verordnete seinem Land nach einem fünf
Jahre dauernden Bürgerkrieg 1976 einen Vierjahresplan, der
die landwirtschaftliche Produktion verdreifachen, mit den Erlösen
des Exports die Industrialisierung vorantreiben sollte. Ohne Werkzeuge,
Anleitung oder Vieh, mussten zwei Millionen halbverhungerte StadtbewohnerInnen
dieses Wunder vollbringen.
Die Zentrale gab Befehle und verlangte die Einhaltung des Planes.
Die lokalen Funktionäre fälschten aus Angst die Berichte.
Trotz der schlechten Ernte mussten die Quoten, die für die
Haptstadt aufgestellt wurden, erfüllt werden. Wenn die "Überschüsse"
ins Zentrum geschafft wurden, hiess das nichts anderes, als dass
die Nahrung, die eigentlich für die jeweilige Region gedacht
war, von dort verschwand. Tausend Hungerten, und als wenn die
Nachricht von ihrem Tod das Zentrum erreichte, wurden Hunderte
von Funktionären mit der Anschuldigung verhaftet, sie hätten
den Plan sabotiert.
Als klar wurde, dass die Ziele nie erreicht werden würden,
fielen mehr und mehr Funktionäre, aber auch einfache Bauern
unter den Verdacht der "Sabotage". Viele der Opfer gehörten
zum engsten Kreis der Bewegung. Von den "killing field",
den Exekutionsfeldern, existieren keine schriftlichen Zeugnisse
mehr; 1979 grub man die sterblichen Überreste von Abertausenden
wieder aus.
Männer und Frauen, denen schwere Verbrechen angelastet wurden,
brachte man vom Land in das geheime Gefängis S-21 in Tuol
Sleng. Der Verwalter, ein ehemaliger Lehrer organisierte die Bürokratie
des Todes genauso "gewissenhaft" wie er früher
seine Schulklassen. Alle neu Eintreffenden in der zum Folterzentrum
umfunktionierten Volksschule wurden mit Nummern versehen und fotografiert,
um sie dann systematisch zu auszulöschen. (3) Es waren keine
Schauprozesse, wie unter dem Stalininsmus oder "Umerziehungen"
wie in Maos China oder in Vietnam; die Folterungen verliefen geheim,
Ziel war die körperliche Vernichtung; Angehörige und
Kinder der Angeklagten wurden wie selbstverständlich der
gleichen Tortur unterzogen. Diese Fotos, aus denen das Entsetzen
die BetrachterIn unmittelbar anspringt, sind als ein einzigartiges
Zeugnis erhalten geblieben.
Sind das gute Bilder?
Im Besonderen sind es die Bilder der Kinder, die einen hilflos
machen. 120 der 6000 Fotos sind in engen, weiss gestrichenen Gängen
in der Galerie des Museums für Gestaltung ausgestellt; Auge
in Auge sieht man sich gegenüber. Was mir im Kopf ablief,
lässt sich nicht ordnen, oder rational darlegen. Alle müssen
sich dieser Erfahrung selbst stellen. Ob man sich selbst als Henker
oder Fotograf fühlt, an welchen Genozid dieses Jahrhunderts
man denkt, die Ausstellung lässt es offen. "Es sei keine
Ausstellung über Kambodscha" sagte Martin Heller in
der Diskussion. Für mich war der Besuch aber Anstoss und
Wunsch, mich vertiefter mit der Geschichte dieses Landes zu befassen,
einer Geschichte, die gerade in der Linken kaum präsent ist.
Zu einer weitergehenden Auseinandersetzung stellt das Museum
für Gestaltung ausser dem Katalog wenig schriftliche Informationen
zur Verfügung. Es werden auch keine Führungen organisert.
Umso wichtiger war die bereits oben angesprochene öffentliche
Diskussion. Diese befasste sich, mit Ausnahme der einleitenden
Worte von Daniel Schwartz aber weniger mit der konkreten Geschichte.
Im Zentrum standen ethische und ästhetische Fragen. Dürfen
diese Bilder überhaupt gezeigt werden. Und wenn ja, in welchem
Rahmen? Hans Saner bejahte die erste Frage unbedingt. "Diese
Bilder sind die einzige Art und Weise, das Gedenken an die Opfer
wach zu halten." Die Fotographen hätten nicht eine Ästhetik
des Terrors im Sinne gehabt, sodern eine Dokumentation. "Diese
Bilder verharmlosen nicht, sie sind das Werk von Bürokraten,
aber das Unerklärliche ist: Es sind gute Bilder, die ihresgleichen
in der Dokumentar-Fotografie nicht haben." Martin Heller
las Passagen eines Briefes vor, dessen Verfasser sich empörte,
dass die Qualität der Bilder ein Kriterium der Ausstellung
sei. Und eine Zuhörerin doppelte nach: "Wie schlecht
hätten die Fotos sein müssen, dass man sie nicht gezeigt
hätte?" Heller konnte keine Antwort geben. Er sei froh,
dass nicht er die Auswahl hatte treffen müssen; er hat die
Auswahl der beiden Fotografen Riley und Niven, die das Archiv
in Tuol Sleng sichteten, übernommen. Und schon die Aufgabe,
die Bilder nach ästhetischen Kriterien zu ordnen sei sei
eigentlich unlösbar.
Kunst als Widerstand
und Anpassung
Alle Fotografen wurden im Laufe der Zeit selbst Opfer von Folterungen.
So erklärt sich vielleicht die Qualität der Bilder.
Ein Wunsch, möglichst genau zu dokumentieren, weil einem
sont nichts bleibt. Saner schlug einen Bogen zum Nationalsozialismus.
In Theresienstadt wurden regelmässig Operetten aufgeführt;
für viele der Insassen war die Kunst eine Überlebensnotwendigkeit.
Das dürfe man nicht vergleichen, kam der Einwand einer Zuhörerin.
"Kunst ist nicht immer nur Widerstand", antwortete Saner,
die Aufführungen wurden vom KZ-Kommandanten befohlen. Eine
fand anlässlich einer Rot Kreuz-Visite statt. Man steckte
die DarstellerInnen in schwarze Kleider, gab ihnen bessere Essen;
nur gute Schuhe liessen sich nicht auftreiben. So wurde eine Brüstung
errichtet, welche die Füsse, die in Holzschuhen steckten,
verbragen. "Genausowenig ist die Kunst der Fotographen in
Tuol Sleng nur Kollaboration mit dem Regime."
Ein Zuhörer, der das Museum in Kambodscha selbst besucht
hatte, fühlte sich durch die Art, wie die Bilder in Zürich
ausgestellt wurden, verletzt. Die Menschen seien aus ihrer Biographie
herausgerissen worden. "Es gibt unzählige Dokumente,
die man hätte berücksichtigen sollen, um den Menschen
eine andere Identität als die des Opfers zu geben."
Hier trafen die unterschiedlichen Auffassungen in aller Schärfe
aufeinander. Sollen die Bilder ein Symbol dieses Jahrhunderts
sein, wie es die Ausstellung will, oder geht es um möglichst
exakte Aufklärung der (historischen) Umstände. Ob das
Museum für Gestaltung diese Arbeit überhaupt leisten
könnte, ist eine andere Frage. Ich wünschte mir mehr
zusätzliche Informationen. Denn, wie Hans Saner richtig bemerkte:
"Die Solidarität, das Gedenken an die Opfer ist wichtig,
genauso wichtig ist das politische Bewusstsein."
Felix Epper
Ausstellung bis 14. Januar 1996 im Museum für Gestaltung
in Zürich zu sehen.
(1) Dies bestätigt auch der Bericht des
UN-Generalsekretärs für Menschenrechtsfragen in Kambodscha,
Kirby. Vgl. Le Monde Diplomatique, Februar 1995, S. 13
(2) "Facing Death", Photographers International Nr.
19 (1995), zusammen mit einer Deutschen Übersetzung
(3) Über den "Alltag" in S-21 gibt die Einleitung
zu "Facing Death" einen ersten Eindruck. So schrecklich
diese Dokumente sind, müssen sie doch gelesen werden.
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