Berner Zeitung, Samstag, 4. Juli 1998
Junge Schweizer Literatur
Neue Stimmen mischen sich ein
Susanne Schanda
über die literarische Szene vor der
Frankfurter Buchmesse
Der bevorstehende Schweizer Auftritt an der Frankfurter Buchmesse treibt
erste Blüten. Während die einen noch über das Wie, Wer und
Warum debattieren, werfen die andern bereits ihre ersten Bücher auf
den Markt. Die junge Schweizer Literatur lässt aufhorchen.
Kurz vor dem bevorstehenden Bücherherbst und der Frankfurter Buchmesse
spürt die Schweizer Literatur den Frühling. Die 28jährige
Bieler Autorin Sabine Reber hat soeben ihren ersten Roman veröffentlicht,
der 33jährige Tim Krohn ist zum Präsidenten des Schriftstellerverbandes
SSV gewählt worden, um diesen von seinem konservativen Image zu befreien,
und im Rotpunktverlag ist ein Buch mit Stadtgeschichten erschienen, mit
dem sich sieben junge Autorinnen und Autoren aus dem Raum Zürich in
die Literaturszene geschrieben haben. «Schnell gehen auf Schnee»
heisst das Buch und enthält Geschichten von Monika Burri, Felix Epper,
Susanne Wagner, Sabine von Fischer, Daniel Sebastian Saladin, Wolfgang
Logoz und Heike Grein.
Literarische Popgruppe?
Auf sich aufmerksam gemacht haben die Autorinnen und Autoren - alle
um die dreissig - mit einer Buchvernissage in der Zürcher 17,anzleiturnhalle.
Schnell hat sich herumgesprochen, dass die sieben zusammen an Quartierfesten
auftreten. Eine literarische Popgruppe? «Nein, das sind wir nicht»,
lacht Monika Burri, «und wir haben es noch gar nie geschafft, alle
sieben zusammen aufzutreten, irgend jemand fehlt immer».
Zum BZ-Fototermin in einem Zürcher Tram kommen sie zu sechst und
zum Gespräch im Restaurant «Les Arcades» im Bahnhof Zürich
erscheinen Monika Burri, Susanne Wagner und Felix Epper zu dritt. «Wir
sind die von der Gruppe autorisierte Delegation», scherzt Epper.
Alle drei schreiben seit 10 Jahren und publizieren vorwiegend in Zeitschriften.
Während Susanne Wagner ihr Leben mit journalistischen Arbeiten verdient,
arbeitet Felix Epper neben Schreiben und Studium als Grafiker. Auch Monika
Burri studiert noch und arbeitet gelegentlich für Zeitungen. «Ich
schreibe zur Zeit auf Kosten des Schlafs», sagt sie.
Diese Geschichten könnten tatsächlich im Tram geschrieben
sein, und sie können im Tram gelesen werden. Auch zwischen Zytglogge
und Breitenrain. Da zeigt sich ein Erzähltempo, das auf Romanlänge
wohl nur schwer durchzuhalten wäre und das für Schweizer Literatur
ganz untypisch ist.
Im Tram
Konzentriert auf wenige Seiten, eröffnen diese Geschichten schnell
ganze Welten. Etwa so: «Manchmal kommt es vor, dass sich die Orte
neu zusammensetzen, wie auf diesen Postkarten, wo man die Schweizer Berge
also das Matterhorn - vor jeder beliebigen Stadt sehen kann.»
Genau
dies tut Felix Epper in der Geschichte «Mein Tram»: Orte neu
zusammensetzen. Er lässt sein Tram aus der Stadt durch eine Regenwand
ans Meer fahren. Da klingt noch etwas mit vom Slogan der Achtziger Bewegung
«Freie Sicht aufs Mittelmeer», doch Eppers Tram findet auch
den Weg zurück, von der Sehnsucht in die Wirklichkeit: «Bald
werden
wieder Menschen zusteigen; es geht stadteinwärts.»
Auf nur
dreieinhalb Seiten spielt sich diese Geschichte ab, karg erzählt und
voller Atmosphäre. Sie ist eine von 60 kurzen, frischen und phantastischen
Geschichten, die nur eines gemeinsam haben: Sie spielen in der Stadt. So
erzählt Monika Burri von städtischen «Umschlagplätzen»
und was alles passiert, wenn eine im Sommer ihre «Flaneuse aus dem
Schrank» holt und streunen lässt.
Sabine von Fischer philosophiert über die Angst, die sich zeigt
beim «Schnell gehen auf Schnee», eine existentielle Angst,
die laut wissenschaftlichen Berichten schon immer da war und doch mehr
als zuvor die Befindlichkeit des modernen Stadtmenschen prägt. In
Susanne Wagners Geschichte «Husbands&Wives» kommt ein seit
Jahren geschiedener Mann nach einem harmlosen Kinobesuch mit einer Freundin
zum Schluss, dass er seiner Ex-Frau immer treu bleiben will: «Vor
Gott habe er ihr die Treue geschworen. Sein Leben lang. Daran werde er
sich halten.» Und eine Realsatire um die Schliessung einer Kunstausstellung
in Zürich erzählt Daniel Sebastian Saladin in der Geschichte
«Pomosepp» nach: « <Pornosepp > heisst er bei uns
in der WG, eigentlich ist er der Stadtpräsident. »
Was viele der Geschichten in «Schnell gehen auf Schnee»
auszeichnet, ist die Leichtigkeit, mit der sie daherkommen. Das heisst
nicht Oberflächlichkeit, auch nicht selbstverliebte Nabelschau, sondern
eine präzise und oft ironische Auseinandersetzung mit der Zeit und
dem Ort, in dem die Schreibenden leben.
Die Stadt
Der Ort ist die Stadt, genau besehen Zürich, aber eigentlich ist
es die Stadt schlechthin - als Hass- und Liebesobjekt, dem man verfallen
ist: «Die Stadt hat gesagt <ja ich bin schlecht, ich bin dein
Elend und dein Unglück>, und sie hat es mit einer solchen Schönheit
gesagt, dass ich, glücklich wurde in ihr», schreibt Daniel
Sebastian Saladin in der Geschichte «Tod».
Die Entstehung des Geschichtenbuches hört sich so leicht an wie
die Geschichten selbst. Die Lektorin Silvia Ferrari vorn Rotpunktverlag
ist im Lesepodium «Holozän» an der ETH auf Monika Burri
aufmerksam geworden und hat diese um ein Manuskript gebeten. «ich
hätte allein gar kein ganzes Buch schreiben können», sagt
]3urri «und so haben wir nach dem Schneeballprinzip weitere Autorinnen
und Autoren zum Verlag geschickt.» Dieser hat schliesslich die Autoren
und Texte für das Buch ausgewählt. So ist diese Gruppe entstanden,
die eigentlich gar keine ist. «Das ist ein pragmatischer Zusammenschluss,
ganz auf dieses Buch bezogen, aber keine feste Gruppe, ich bin offen für
neue Projekte», sagt Felix Epper, der von früheren langjährigen
Werkstattgesprächen mit Susanne Wagner und Wolfgang Logoz viel gelernt
hat.
Besuch bei Netz
Mit der Autorengruppe «Netz», die vor fünf Jahren um
Peter Weber, Ruth Schweikert und Perikles Monioudis entstanden ist, verbindet
die sieben jungen Zürcher nicht viel. Susanne Wagner und Felix Epper
haben einmal an einem «Netz»-Treffen gelesen: «Das war
schrecklich», erinnert sich Felix Epper, «da wurden auch Kritiker
und Verlagsleute eingeladen, und die haben dann auf die Texte eingedroschen.
<Ganz putzig, als Schulaufsatz gäbe es die Bestnote>, musste ich
mir dort sagen lassen. »
Zu grossen Stars der Literaturszene werden die sieben mit ihrem Buch
natürlich nicht, und das wissen sie: «Um in der Literatur bestehen
zu können, MUSS man einen Roman schreiben», ist Monika
Burri überzeugt. Doch dafür fehlt es momentan an Zeit und Geld.
«Eine Kurzgeschichte kann man in einer Nacht schreiben, aber an einem
Roman müsste ich dranbleiben können, und das liegt neben den
verschiedenen Jobs zum Geldverdienen einfach nicht drin», sagt Susanne
Wagner.
Von den 1800 Exemplaren der ersten Auflage der Stadtgeschichten sind
laut Verlag nach zwei Monaten erst 600 verkauft worden, doch die Frankfurter
Buchmesse steht noch bevor. Ausserdem ist im Herbst ein Auftritt in Bern
geplant, an dem die sieben tatsächlich für einmal vollzählig
erscheinen wollen.
Reise nach Frankfurt
Die Buchmesse im Oktober wollen sie sich nicht entgehen lassen. Auf
der offiziellen Liste der von Christoph Vitali nach Frankfurt eingeladenen
Autoren sind die sieben zwar nicht zu finden, denn «neue Namen fehlen
auf dieser Liste», wie Tim Krohn im Interview sagt (siehe unten).
Weil der kleine Rotpunktverlag seinen Autoren die Reise nach Frankfurt
nicht finanzieren kann, wollen sie auf eigene Kosten hinfahren und dort
in Wohngemeinschaften übernachten. Im Buchcaf6 des Verlegerverbandes
auf der Messe dürfen sie ihre Texte vorstellen. Allzu grosse Illusionen
über die Wirkung eines Auftrittes an der Buchmesse wollen sich die
drei zwar nicht machen, aber doch dies: «Aus der Schweizer Medienlandschaft
rauskommen und vielleicht in einer deutschen Literatur-Beilage auffallen.»
Aufmerksamkeit vom deutschen Buchmarkt erhoffen sich auch andere. Rund
30 Neuerscheinungen von Schweizer Autorinnen und Autoren werden in den
nächsten Monaten - pünktlich zur Buchmesse - auf den Markt geworfen.
Darunter finden sich nicht nur die neuen Bücher der bekannten Loetscher,
Hürlimann, Muschg & Co., sondern auch von jüngeren Autoren
wie Ruth Schweikert, Tim Krohn, Urs Richle und Silvio Huonder. Der in Berlin
lebende Bündner hat nach seinem erfolgreichen Erstlingsroman «Adalina»
zum Frankfurter S. Fischer Verlag gewechselt. Perikles Monioudis, Tim Krohn
und Urs Richle waren bereits vorher bei deutschen Verlagen, und die 28jährige
Bielerin Sabine Reber konnte gleich ihren ersten Roman «Die Schwester
des Schattenkönigs» bei Kiepenheuer & Witsch unterbringen
(Kasten).
Spannende Anthologien
Ein besonderes Augenmerk verdienen allerdings die Anthologien, die demnächst
erscheinen, denn dort lassen sich neue Namen entdecken, auch Berner. «Sprung
auf die Plattform» heisst programmatisch der Band, der bereits im
August bei Nagel & Kimche erscheint. Dort finden sich Prosatexte junger
Schweizer Autorinnen und Autoren, die noch nichts in Buchform veröffentlicht
haben, aber mit ihren Texten in Zeitschriften aufgefallen sind, so etwa
Lukas Bärfuss und Marianne Freidig aus Bem. Auch Susanne Wagner und
Felix Epper aus dem Stadtgeschichten-Band sind vertreten. Und im Vorwort
fragt Nicole Müller, selbstbewusst: «Wer hat Angst vor der Schweizer
Literatur?»
(...)