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Der Hund
v|o|n| F|E|L|I|X|| E|P|P|E|R

Herr Friedmann spazierte am Ufer des Sees. Die Landschaft hatte eine traumhafte Atmosphäre, wie Schatten stiegen die Büsche aus dem Wasser auf. «Aus dem Totenreich,» dachte Herr Friedmann. Doch es war nur ein aussergewöhnlich hoher Seestand. Das kommt  vor, wenn die Frühjahrsregengüsse sich mit der Schneeschmelze in den Alpen vereinigen und tosend ins Tal donnern. Es zeigte sich allerhand Volk auf der Promenade, insbesondere Hundebesitzer liessen ihre Lieblinge herumtollen, dass es eine wahre Freude war, auch Liebespaare, trotz erst sehr spärlichem Grün an den Büschen und Bäumen, liefen engumschlungen, herzend und küssend von Bank zu Bank, als bedürften sie ständig der Erholung von ihrem Tun. In manchem Kopf spukte wohl die Fortführung der Liebelei am Abend. Der Boden war noch feucht und nass. Und die lauschigsten Plätze lagen unter Wasser. Ohren wurden vollgeflüstert mit Zärtlichkeiten und gewagten Wünschen. Alles aber war in einem Vorstadium, noch nicht reif genug und musste warten, bis es zu sicheren Orten gelangte. Die Sonne wärmte, aber so, dass die Jacke einen nicht beengte, sondern das ihrige zu einer angenehmen Wärme beitrug. Ein Tag wie geschaffen, den Blick über den See schweifen zu lassen, an die Jugend zu denken, falls sie vorbei war. Frauenaugen blickten den Jungen nach, die heftig gestikulierend, an einer Ufermauer standen. Fanny liebte es zu beobachten. Sie war allein, sass auf einer der grüngestrichenen Bänke, die Zeitung auf dem Schoss und reckte die Zehen gegen die Sonne. Jetzt schauten die drei Jungen nach der anderen Seite des Ufers. Sie blickten in die Leere, denn was gab es da schon zu sehen? Liessen die Sonne auf den Hals scheinen. Eine seltsame Schwere überfiel die Gegend; zogen da Wolken auf? grollte da das Wasser und haschte nach den Ahnungslosen? Herr Friedmann musste an den Hund denken; damals waren sie auch den See entlangspaziert; oder war es doch heute? Die Schwere sass in seinem Nacken, griff nach ihm. Nicht schon wieder! Bring doch den heiteren Tag zurück! Fanny sass noch immer auf ihrer Bank; an ihr konnte er sich doch festhalten; an ihren Zehen im Sonnenlicht. Einmal hatte er mit ihr gesprochen, doch nie über diese Schwere. Er kannte ihren Namen. Ihr Gesicht war Erinnerung. Das trieb ihn trotz allem immer wieder an den See. Trotz allem.

Er hatte sich freigeschüttelt von der Hand in seinem Nacken und ging auf Fanny zu. Umständlich nestelte er an seinem Hemdkragen, er merkte, dass sein Kopf zu zittern begann, doch war er mittlerweile damit vertraut. Es zitterte nur in ihm selbst und war für den Gegenüber nicht ersichtlich. Er versuchte trotz des Zitterns, seine sieben Sinne zusammenzunehmen und mit klarer Stimme zu sprechen. Sie blickte erstaunt auf. Ob sie wohl argwöhnisch war und jedesmal, wenn sie ihn zu Gesicht bekam einen leichten Schauder verspürte. Doch sie konnte die Geschichte nicht kennen. «Vor fünf Jahren im Frühling war ich auch am Seeufer unterwegs, ja es standen dieselben Bänke unter den Linden, derselbe Wasserstand; vielleicht wage ich es heute, mich ihnen anzuvertrauen.» Friedmann gewann an Sicherheit, weil sie ruhig zuhörte. Er glaubte bereits ein wenig, eine Vertraute gefunden zu haben. «Sie haben bereits einmal mit mir gesprochen», sagte sie aber gleich darauf, «Männer haben es so an sich, in ihrem Katztenjammer eine Frau als Klagemauer zu benutzen. Schauen sie, dass sie, bevor sie alt werden, andere Wege finden, ihre Einsamkeit zu überwinden. Noch haben sie eine gewisse Würde. Doch wenn sie alt und ein Trinker geworden sind, wird man ihnen nur mit Ekel begegnen. Sie trinken schon jetzt und sie stellen mir im Park nach. Als Mann können sie sich wohl nicht vorstellen, wie sehr eine Frau darunter leidet, nie wirklich sicher zu sein, ausser hinter verriegelten Türen bei sich zu Hause.» – «Nein, nein, nein!» Friedmann raufte sich die Haare. »Bitte hören sie mir zu. Ich kann doch nichts dafür. Ich leide doch selbst und sogar, wenn ich sieben Schlösser an meine Tür lege und Schlüsselloch und Türspion zuklebe, bin ich nicht sicher. Weil da» – und er zeigte auf seinen Kopf  – «Da drinnen gibt's kein Entrinnen.» Die Nähe der Poesie zum Wahnsinn kam ihm bei diesem Reim wieder ins Bewusstsein. «Haben sie manchmal auch das Gefühl des déjà vu?» fragte er. «Immer wenn ich den See entlang gehe, überkommt mich eine Schwere, die mich zum Wasser lockt. Und wenn Hochwasser ist, scheint dieses Locken über die Ufer wegzusteigen und es reicht aus, dass ich zu Hause die Badewanne volllaufen lasse. Und ich fliehe mit Panik. Und ich fliehe immer wieder zum See. Weil ich noch immer glaube, hier könnte ein Trost sein.»

Sie schwieg nur. Er fuhr fort: «Sie werden sich jetzt fragen, wieso ich nicht von diesem See wegziehe, wenn er mich so krank macht. Verantwortung? Muss ich dieses Leiden auf mich nehmen? Glauben sie an den Tod?» – – – Lange schwiegen beide. Früher hatte er mit Franziska so oft über den Tod gesprochen. Das hatte die vertrautesten Momente ihrer Liebe – was dieses geschändete Wort auch immer bedeuten mag – ausgemacht. Aber schliesslich hatte der Tod ihrer Liebe ein Ende gemacht, aber nicht so, wie er es sich vorgestellt hätte. Es gab kein ewiges Trauern an ihrem Grab, kein depressives Wandern durch Landschaften, die ihre Asche aufnahmen. Es gab keinen Sinn im Tod. «Der Tod schlägt zu, wenn wir es am wenigsten erwarten. Und er trifft Menschen, die uns gerade im Moment des Todes so fremd sind, dass wir es nie verstehen. Ich erzähle ihnen eine Geschichte: Es war im April, nach langer Trennung machte sich ein junges Paar auf, die Wurzeln der Zerrüttung der Verhältnisse aufzuspüren. Sie hatten sich das Ufer ebendieses Sees ausgesucht und sagten sich, dass sie notfalls über Nacht bleiben würden, falls sie nicht vorwärtskämen. Sie sprachen viel und nach vier Stunden lagen sie sich in den Armen und weinten sich die Augen aus dem Kopf, um nicht mehr sehen zu müssen. Sie liebten sich, um die Grenzen des Körpers nicht mehr spüren zu müssen, sie pressten die Münder aufeinander, um nicht mehr sprechen zu müssen. Man sollte sie finden, beide tot, ineinanderverkrallt, starr aber glücklich im Moment des Sterbens. Das hatten sie sich nach vier Stunden versprochen und er hatte die Segnungen der Chemie gepriesen und eine Schachtel hervorgezaubert, deren Inhalt, den Zeitpunkt des Todes genau bestimmen liess. Sie lagen im nassen Gras, in der späten Abendsonne gingen die Spaziergänger und Hundebesitzer vorbei, ohne zu ahnen. Einer war ein Gaukler und Zauberer, er führte einen Käfig mit sich, mit einem kleinen Menschlein darin, das war vielleicht so gross wie ein Daumen. Es hatte sich an den Gitterstäben festgekrallt und blickte sehnsüchtig in die Weite. Der Gaukler fiel nicht weiter auf, denn der Käfig schien leer zu sein. Nur der Mann im Gras, hinter dem Gebüsch sah das Menschlein, und empfand ein tiefes Mitleid. Er zog seine Geliebte näher an sich und wollte vergessen. Der Käfig wurde geöffnet und das Menschlein rannte los, quer über die Wiese, fast versank es im Wasser, das einen Teil des Rasens überflutet hatte. Der Gaukler rieb sich die Hände vor Vergnügen und lachte schallend, Leute gesellten sich zu ihm, das Menschlein schien verunsichert zu sein. Es rannte um sein Leben. Der  Mann hinter dem Gebüsch brach in Tränen aus. Jetzt hatte die Meute das Menschlein erkannt. «Es ist ja ganz schwarz» gellte der Schrei aus tausend Kehlen. Und das kleine Ding lief und lief. Vielleicht hatte es das erste Mal Freiheit, die Welt schien unendlich gross. Hände packten es und liessen es wieder los. Der Gaukler ging mit dem Hut umher. Er machte gute Geschäfte. Jetzt zog ein Herr gar eine Lupe hervor und betrachtet den Winzling. «Er ist ein richtiger Mensch!» lachte der Herr und schüttelte das Menschlein ab, wie ein Ungeziefer. Und weiter lief's. Schwere überfiel den Mann hinter dem Gebüsch. Seine Geliebte röchelt nur noch. er wollte sie abschütten, schrie ihr ins Ohr: «Siehst du denn nichts.» Er erbrach sich und erreichte das auch bei ihr. Doch sie waren zu dumpf. Es war ein Laufen und Hetzen auf der Wiese. Die Menschen hatten jetzt zwei Parteien gebildet und trieben das Menschlein hin und her. «Man muss doch etwas machen. Man muss doch eingreifen.» Doch wie Blei zog es den Mann zu Boden. Er verlor das Bewusstsein. Er sah nur noch, wie das Menschlein, endlich eine Lücke gefunden hatte, dem Mob entkam, den Wäldern entgegen lief. Toto, der dicke Hund Friedmanns, Toto, den die beiden achtlos an eine Bank angekettet hatten, bevor sie sich ins Gras legten, sass friedlich da, tat sein Maul auf und frass das kleine Menschlein mit einem Biss. –

Den Hund habe ich verkauft; die arme Kreatur kann doch nichts dafür, ich konnte ihn nicht einschläfern lassen,» sagte Herr Friedmann. Meine Geliebte habe ich nie wiedergesehen. Das ist das Ende der Geschichte.» – – –

Herr Friedmann wollte nach Hause gehen. Fanny konnte ihm keinen Trost spenden, auch das Erzählen half nicht weiter.

Man könnte jetzt von Fanny denken, sie würde die Geschichte Friedmanns verstehen. Ihm das wenigstens sagen. Doch sie schwieg. Den dicken Hund Toto, den sie auf ein Inserat in der Zeitung gekauft hatte, hatte sie noch nie zum See geführt. Sie wusste jetzt warum.

(c) 1994 by Felix Epper

 

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