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Der Hund Er hatte sich freigeschüttelt
von der Hand in seinem Nacken und ging auf Fanny zu. Umständlich nestelte
er an seinem Hemdkragen, er merkte, dass sein Kopf zu zittern begann,
doch war er mittlerweile damit vertraut. Es zitterte nur in ihm selbst
und war für den Gegenüber nicht ersichtlich. Er versuchte trotz des
Zitterns, seine sieben Sinne zusammenzunehmen und mit klarer Stimme
zu sprechen. Sie blickte erstaunt auf. Ob sie wohl argwöhnisch war und
jedesmal, wenn sie ihn zu Gesicht bekam einen leichten Schauder verspürte.
Doch sie konnte die Geschichte nicht kennen. «Vor fünf Jahren
im Frühling war ich auch am Seeufer unterwegs, ja es standen dieselben
Bänke unter den Linden, derselbe Wasserstand; vielleicht wage ich es
heute, mich ihnen anzuvertrauen.» Friedmann gewann an Sicherheit,
weil sie ruhig zuhörte. Er glaubte bereits ein wenig, eine Vertraute
gefunden zu haben. «Sie haben bereits einmal mit mir gesprochen»,
sagte sie aber gleich darauf, «Männer haben es so an sich, in
ihrem Katztenjammer eine Frau als Klagemauer zu benutzen. Schauen sie,
dass sie, bevor sie alt werden, andere Wege finden, ihre Einsamkeit
zu überwinden. Noch haben sie eine gewisse Würde. Doch wenn sie alt
und ein Trinker geworden sind, wird man ihnen nur mit Ekel begegnen.
Sie trinken schon jetzt und sie stellen mir im Park nach. Als Mann können
sie sich wohl nicht vorstellen, wie sehr eine Frau darunter leidet,
nie wirklich sicher zu sein, ausser hinter verriegelten Türen bei sich
zu Hause.» – «Nein, nein, nein!» Friedmann raufte
sich die Haare. »Bitte hören sie mir zu. Ich kann doch nichts
dafür. Ich leide doch selbst und sogar, wenn ich sieben Schlösser an
meine Tür lege und Schlüsselloch und Türspion zuklebe, bin ich nicht
sicher. Weil da» – und er zeigte auf seinen Kopf – «Da
drinnen gibt's kein Entrinnen.» Die Nähe der Poesie zum Wahnsinn
kam ihm bei diesem Reim wieder ins Bewusstsein. «Haben sie manchmal
auch das Gefühl des déjà vu?» fragte er. «Immer wenn ich
den See entlang gehe, überkommt mich eine Schwere, die mich zum Wasser
lockt. Und wenn Hochwasser ist, scheint dieses Locken über die Ufer
wegzusteigen und es reicht aus, dass ich zu Hause die Badewanne volllaufen
lasse. Und ich fliehe mit Panik. Und ich fliehe immer wieder zum See.
Weil ich noch immer glaube, hier könnte ein Trost sein.» Sie schwieg nur. Er fuhr
fort: «Sie werden sich jetzt fragen, wieso ich nicht von diesem
See wegziehe, wenn er mich so krank macht. Verantwortung? Muss ich dieses
Leiden auf mich nehmen? Glauben sie an den Tod?» – – – Lange schwiegen
beide. Früher hatte er mit Franziska so oft über den Tod gesprochen.
Das hatte die vertrautesten Momente ihrer Liebe – was dieses geschändete
Wort auch immer bedeuten mag – ausgemacht. Aber schliesslich hatte der
Tod ihrer Liebe ein Ende gemacht, aber nicht so, wie er es sich vorgestellt
hätte. Es gab kein ewiges Trauern an ihrem Grab, kein depressives Wandern
durch Landschaften, die ihre Asche aufnahmen. Es gab keinen Sinn im
Tod. «Der Tod schlägt zu, wenn wir es am wenigsten erwarten. Und
er trifft Menschen, die uns gerade im Moment des Todes so fremd sind,
dass wir es nie verstehen. Ich erzähle ihnen eine Geschichte: Es war
im April, nach langer Trennung machte sich ein junges Paar auf, die
Wurzeln der Zerrüttung der Verhältnisse aufzuspüren. Sie hatten sich
das Ufer ebendieses Sees ausgesucht und sagten sich, dass sie notfalls
über Nacht bleiben würden, falls sie nicht vorwärtskämen. Sie sprachen
viel und nach vier Stunden lagen sie sich in den Armen und weinten sich
die Augen aus dem Kopf, um nicht mehr sehen zu müssen. Sie liebten sich,
um die Grenzen des Körpers nicht mehr spüren zu müssen, sie pressten
die Münder aufeinander, um nicht mehr sprechen zu müssen. Man sollte
sie finden, beide tot, ineinanderverkrallt, starr aber glücklich im
Moment des Sterbens. Das hatten sie sich nach vier Stunden versprochen
und er hatte die Segnungen der Chemie gepriesen und eine Schachtel hervorgezaubert,
deren Inhalt, den Zeitpunkt des Todes genau bestimmen liess. Sie lagen
im nassen Gras, in der späten Abendsonne gingen die Spaziergänger und
Hundebesitzer vorbei, ohne zu ahnen. Einer war ein Gaukler und Zauberer,
er führte einen Käfig mit sich, mit einem kleinen Menschlein darin,
das war vielleicht so gross wie ein Daumen. Es hatte sich an den Gitterstäben
festgekrallt und blickte sehnsüchtig in die Weite. Der Gaukler fiel
nicht weiter auf, denn der Käfig schien leer zu sein. Nur der Mann im
Gras, hinter dem Gebüsch sah das Menschlein, und empfand ein tiefes
Mitleid. Er zog seine Geliebte näher an sich und wollte vergessen. Der
Käfig wurde geöffnet und das Menschlein rannte los, quer über die Wiese,
fast versank es im Wasser, das einen Teil des Rasens überflutet hatte.
Der Gaukler rieb sich die Hände vor Vergnügen und lachte schallend,
Leute gesellten sich zu ihm, das Menschlein schien verunsichert zu sein.
Es rannte um sein Leben. Der Mann hinter dem Gebüsch brach in Tränen
aus. Jetzt hatte die Meute das Menschlein erkannt. «Es ist ja
ganz schwarz» gellte der Schrei aus tausend Kehlen. Und das kleine
Ding lief und lief. Vielleicht hatte es das erste Mal Freiheit, die
Welt schien unendlich gross. Hände packten es und liessen es wieder
los. Der Gaukler ging mit dem Hut umher. Er machte gute Geschäfte. Jetzt
zog ein Herr gar eine Lupe hervor und betrachtet den Winzling. «Er
ist ein richtiger Mensch!» lachte der Herr und schüttelte das
Menschlein ab, wie ein Ungeziefer. Und weiter lief's. Schwere überfiel
den Mann hinter dem Gebüsch. Seine Geliebte röchelt nur noch. er wollte
sie abschütten, schrie ihr ins Ohr: «Siehst du denn nichts.»
Er erbrach sich und erreichte das auch bei ihr. Doch sie waren zu dumpf.
Es war ein Laufen und Hetzen auf der Wiese. Die Menschen hatten jetzt
zwei Parteien gebildet und trieben das Menschlein hin und her. «Man
muss doch etwas machen. Man muss doch eingreifen.» Doch wie Blei
zog es den Mann zu Boden. Er verlor das Bewusstsein. Er sah nur noch,
wie das Menschlein, endlich eine Lücke gefunden hatte, dem Mob entkam,
den Wäldern entgegen lief. Toto, der dicke Hund Friedmanns, Toto, den
die beiden achtlos an eine Bank angekettet hatten, bevor sie sich ins
Gras legten, sass friedlich da, tat sein Maul auf und frass das kleine
Menschlein mit einem Biss. – Den Hund habe ich verkauft;
die arme Kreatur kann doch nichts dafür, ich konnte ihn nicht einschläfern
lassen,» sagte Herr Friedmann. Meine Geliebte habe ich nie wiedergesehen.
Das ist das Ende der Geschichte.» – – – Herr Friedmann wollte nach
Hause gehen. Fanny konnte ihm keinen Trost spenden, auch das Erzählen
half nicht weiter. Man könnte jetzt
von Fanny denken, sie würde die Geschichte Friedmanns verstehen. Ihm
das wenigstens sagen. Doch sie schwieg. Den dicken Hund Toto, den sie
auf ein Inserat in der Zeitung gekauft hatte, hatte sie noch nie zum
See geführt. Sie wusste jetzt warum.
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