Maria Zbinden lebte mit ihrem zweijährigen
Florian am Schwarzsee.
Seit einem Unfall mit dem Mähdrescher fehlten ihr beide Hände.
Dies schränkte ihre Arbeit als Bäuerin stark ein. Also verdiente
sie sich zusätzliches Geld im Auftrag des Gemeinderates als Verkünderin
von Todesfällen. Von Hof zu Hof im steilen Gelände ging sie,
um das Sterben eines Dorfbewohners den Leuten mitzuteilen.
Seit Florian auf der Welt war, mischte sich in Marias Schwermut zeitweise
Fröhlichkeit, und ihre ganze Aufmerksamkeit galt ihrem Sohn, was ihren
Mann kränkte. Bei ihren täglichen Spaziergängen um den Bergsee
oder wie heute auf dem Weg zum Gottesdienst erklärte Maria ihrem Sohn
die Licht- und Naturschauspiele der Voralpen. Verdunkelte sich der Himmel
und warf die Gipsera, der hohe Berg über dem Schwarzsee, ihren Schatten
auf das Wasser, begann Maria zu singen, und die Leute im Dorf wussten,
Maria versuchte die Naturgeister zu besänftigen.
Mit einem Summen lief sie durch die Gegend, als ein Geräusch von
jungen Enten im Schilf Florians Aufmerksamkeit auf sich zog. Die wollte
er unbedingt sehen. Also nahm Maria den Blondkopf mit ihren Armstummeln
aus dem Kinderwagen und trug ihn zum Nest, als ein Mäusebussard tief
über sie hinweg flog. Maria erschrak, schaute kurz zum Himmel und
verlor das Gleichgewicht, Florian fiel ins Bergseewasser.
Zur gleichen Zeit, viele hundert Kilometer weiter in Andalusien, versuchte
eine Zigeunerin dem Gifferser Anton Bertschy aus der Hand zu lesen. Doch
als ihr alter Zeigefinger der Lebenslinie des Senslers entlang fuhr, unterbrach
sie ihre Vorhersagen. Kehrte nur die Hand um, legte einen Gegenstand hinein
und formte die Hand zur Faust.
Anton Bertschy erschrak und ging einen Schritt zurück. Öffnete
die Faust. Einen ganz gewöhnlichen, schmucklosen Spiegel, halb blind,
hatte er vor sich.
«Was soll ich mit diesem Glas?», fragte er die Zigeunerin.
«Dieser Spiegel ist zwar klein, er besitzt aber eine besondere
Gabe. Sein Besitzer kann, ob nah oder fern, tief in jeden Menschen blicken,
den er sich wünscht. Du wirst ihn noch oft gebrauchen», sagte
sie ihm und schaute dabei in seine Augen
Anton Bertschy verstand nicht und ging weiter, steckte den Spiegel in
seine Reisetasche und bestieg die Bahn nach Gibraltar, von wo er mit dem
Schiff nach Marokko weiterreiste. Dort wollte er den Schweizer Botschafter
treffen.
Der Atlantik zeigte den Schiffspassagieren auf der Überfahrt nach
Tanger seine ganze Kraft. Warf die Marokkaner und Touristen bei hohem Wellengang
in die Luft. Vielen wurde es übel. Nur Anton noch nicht.
Er schaute die ganze Zeit in den Spiegel. Immer wieder sah er einen
Fisch mit einem Menschenkopf. Es war der Kopf eines Kindes. Mit Speichel
versuchte Anton die Trübheit des Glases aufzuhellen und bald bestätigte
sich sein Verdacht. Es war das Gesicht von Florian, dem Nachbarsjungen.
Antons Gesicht wurde bleich.
Im Hafen von Tanger angekommen, stieg ihm der Geruch von toten Fischköpfen,
die die Händler auf dem Marktplatz am Morgen vom Fischlaib getrennt
hatten, in die Nase. Scharen von Möwen zankten sich um die Kadaver
und übertönten das Weinen hinter den Schleiern der Frauen, die
einem Leichenzug über den Marktplatz folgten.
Auf einem Harasse sass ein altes Männlein mit gebeugtem Kopf. Anton
ging auf ihn hin zu und wollte es nach dem Weg zum Hotel fragen. Doch das
Männlein antwortete nicht auf sein Fragen, sondern sagte nur immer
und immer wieder «La mort n’est pas la fin, la mort n’est pas la
fin» und drückte ihm ein Fläschchen Balsam in die Hand.
«Wozu brauche ich Balsam?», fragte Anton, «Ich bin
nicht krank.»
«La mort n’est pas la fin», antwortete das Männlein,
Anton erschrak.
«Ich brauche dieses ganze Hexenzeugs nicht», fluchte Anton.
Er griff in die Hosentasche und wollte den Spiegel und das Fläschchen
Balsam in einem hohen Bogen ins Meer werfen. Da erhob sich ein Fisch aus
dem bleigrauen, spiegelglatten Wasser. Sprang hoch ins strahlende Licht,
das ihn vergoldete. Er schien sich eine halbe Ewigkeit in der Sonne zu
halten, um dann wieder unterzutauchen. Zurück blieb eine Furche im
Meer, die sich nicht wieder schloss.
Anton schaute in den Spiegel. Er sah Maria. Ihre Hände umfassten
die Kolben der Bettstatt. Schweiss vermischte sich mit ihren Tränen.
Ihr Gesicht war zerknirscht, wütend. Sie schrie im Wahn.
«Da ist etwas Furchtbares geschehen», dachte sich Anton,
«bloss was? Ich verstehe all diese Zeichen, die mir der Spiegel zeigt,
nicht.»
Und dann tauchte im Spiegel wieder Florian mit einem Fischkörper
auf, bevor sich die Furche im Meer vor Antons Auge schloss und der Spiegel
erblindete. Die Ebbe trieb das Wasser vom Ufer.
«Ach, hier sind Sie», ertönte plötzlich eine Stimme
hinter Antons Rücken, «ich fürchte, Sie seien erst gar
nicht gekommen wegen des Unfalls».
* * *
«Botschafter Berger, ich freue mich, Sie zu sehen. Unfall, sagten
Sie? Was für einem Unfall ?» fragte Anton den Schweizer Diplomanten
verdutzt.
«Das Schwarzseegebiet wurde von einem schweren Unwetter heimgesucht,
die Bergbäche schwollen innert Minuten an, brachten Gestein und Geröll
ins Tal, der See lief über, ein Junge wird vermisst.
«Ein Jun…?» Anton verschluckte die letzte Silbe des Wortes.
Noch mit dem Nachtflug kehrte er in die Schweiz zurück. Es regnete
in Strömen, als Anton mit dem Taxi an der Kathedrale in Freiburg vorbeifuhr.
Sein rechtes Bein begann langsam einzuschlafen. Mit Massieren versuchte
er es wieder zum Leben zu erwecken, als ihm der Spiegel aus der Hosentasche
rutschte. Er schaute ihn an und sah, wie zwei Polizisten den toten Körper
von Florian ans Ufer trugen, ohne dabei das Männlein im Schilf zu
entdecken, das Anton in Marokko getroffen hatte. «La mort n’est pas
la fin» hörte er in sich und das Männlein zeigte mit dem
Finger auf das Fläschchen Balsam.
«Heisst das, dass dieser Balsam, den mir das Männlein gegeben
hat, etwa Tote zum Leben erwecken kann?», fragte sich Anton.
Am nächsten Morgen goss Anton mit einer hastigen Bewegung drei
Tropfen Balsam auf die Stirn von Florian, der aufgebahrt im milden Licht
des Kirchenschiffes lag. Im selben Moment flog eine Krähe durch die
offene Türe. Verzweifelt flog sie gegen die Reliefs, brachtsich einen
Flügel und fiel neben dem Sarg zu Boden. Florians Augen öffneten
sich, die kleinen Finger berührten Antons Hand, doch sein Mund blieb
stumm. Stumm wie die Fische. Seine Begleiter auf dem Weg vom Tod zum zweiten
Leben.
*Jürg Kilchherr schreibt und organisiert u.a. auch
Lesungen in Zürich.
Er sucht noch Schreibende für Auftritte im Café
Casablanca im April jkilchherr@swissonline.ch |